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Überleben im Klimawandel: Europa muss seine Wälder wachsen lassen
EU-News | 27.06.2024
#Biodiversität und Naturschutz #EU-Umweltpolitik #Klima und Energie #Wald

Überleben im Klimawandel: Europa muss seine Wälder wachsen lassen

Foto aus dem Urwald Białowieża - ein moosbewachsener Altast inmitten unberührter Natur
© Adam Wajrak
Unberührte Natur im Białowieża-Urwald

Der Unterschied zwischen Forst und Wald ist aus ökologischer Sicht erheblich. Im Rahmen des Europäischen Kongresses für Naturschutzbiologie diskutierte ein vielfältig besetztes Podium über den Schutz von Ur- und Naturwäldern. Was braucht Europa, damit diese nicht nur für den Klima- und Artenschutz wertvolle Ressource erhalten bleibt? Gesetze durchsetzen, Wissenschaft ernst nehmen, Zivilgesellschaft einbeziehen und Nachhaltigkeit sowie den Green Deal umsetzen.

Gastbeitrag von Stefan Kreft und Nuria Selva

Wälder bedecken 35 Prozent des europäischen Kontinents. Ist damit alles gut? Nicht wirklich, wenn man bedenkt, dass unser Begriff von Wald von industriellen Holzmonokulturen bis hin zu den wirklich biodiversen, wilden Winkeln reicht – unseren Urwäldern. Und hier sehen die Zahlen schlecht aus: Nur 0,7 Prozent der europäischen Wälder sind noch immer in einem natürlichen oder beinahe natürlichen Zustand. Und noch schlimmer: Diese Urwälder liegen isoliert voneinander und sind nicht durch ein ökologisches Netzwerk gesunder Wälder miteinander verbunden.

Dabei sind Urwälder und Naturwälder – hier verstanden als Wald, der sich bei extensiver Nutzung einen naturnahen Zustand bewahrt hat – extrem wertvoll. Sie sind viel hitzeresilienter und wahre Champions in der Bereitstellung lebensnotwendiger Ökosystemleistungen, etwa Kohlenstoffspeicherung, die Erzeugung von kühler Luft und Regen, Bodenschutz und vielem mehr. Mehr und mehr Monokulturen hingegen brechen zusammen. Aber ohne intakten Wald heizen sich unsere Landschaften weiter auf und trocknen immer weiter aus, mit großen Risiken für die Wasserversorgung. Ur- und Naturwälder sind auch Orte der Erholung. Aber vielleicht noch wichtiger: Diese letzten urtümlichen Wälder, die der waldtypischen biologischen Vielfalt und natürlichen Prozessen eine Heimstatt bieten, zeigen uns Menschen, wie „echte europäische Wälder“ eigentlich aussehen und bieten der Waldbewirtschaftung einen natürlichen Bezugspunkt abseits von Kahlschlägen und Pflanzungen eintöniger Baumreihen. Nicht zuletzt besitzen Wälder einen Wert an sich, unabhängig von dem, was wir Menschen in ihnen sehen.

    ein über und über mit Pilzen bewachsener alter Baum im Białowieża-Urwald (Foto: Adam Wajrak)
    Urwälder und Naturwälder [sind] extrem wertvoll. Sie sind viel hitzeresilienter und wahre Champions in der Bereitstellung lebensnotwendiger Ökosystemleistungen.
    Stefan Kreft/Naturwald Akademie und Nuria Selva/Polnische Akademie der Wissenschaften

    Expertenpodium warnt vor kontinuierlicher Zustandsverschlechterung der Ur- und Naturwälder

    Am 18. Juni kamen Vertreter*innen aus Wissenschaft, Naturschutz und Politik zusammen, um über das Schicksal der Primär- und Altwälder in Europa zu diskutieren. Die vom Autorenteam organisierte Podiumsdiskussion „The fate of primary and old-growth forests in Europe: 2018 – 2024 – 2030?” fand im Rahmen des Europäischen Kongresses für Naturschutzbiologie (ECCB 2024) statt, der vom  17.-21. Juni 2024 mit über 1.000 Teilnehmenden aus 51 Ländern in Bologna stattfand. Podiumsdiskutanten waren Thomas Waitz, Mitglied des Europäischen Parlaments für die österreichischen Grünen und außerdem Bewirtschafter eines kleinen Privatwaldes, der strategische Berater Matthias Schickhofer, ebenfalls aus Österreich, der Experte für Waldpolitik Augustyn Mikos aus Polen (Nichtregierungsorganisation Workshop for All Beings), der Ökologe Gabriel Păun aus Rumänien (Agent Green) sowie der schwedische Förster Martin Jentzen (Ekoskog). Die Diskussionsteilnehmer beobachten eine kontinuierliche Verschlechterung des ökologischen Zustandes der Ur- und Naturwälder in ihren Heimatländern und sind sich daher einig über nachfolgende Forderungen an Politik und Gesellschaft.

    Eckpunkte der Erhaltung der Urwälder und Naturwälder in Europa

    Das europäische Schutzgebietsnetzwerk Natura 2000 ist von zentraler Bedeutung für die wirksame Erhaltung dieser Wälder. Allerdings scheitert Natura 2000 bei seinen beiden Hauptzielen, nämlich die genetische, Arten- und Ökosystem-Vielfalt zu erhalten und zu einem funktionierenden ökologischen Verbund zusammenzuwachsen. Während Beispiele aus Österreich und vielen anderen Regionen der Europäischen Union aufzeigen, dass es oftmals ernstlich an der Um- und Durchsetzung der Natura 2000-Regelungen mangelt, spricht die jüngere Geschichte von Białowieża, des größten Urwaldes im Tiefland Europas, dafür, dass Natura 2000 ein Game changer sein kann: Eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof im Jahr 2018 gegen illegale Rodungen war erfolgreich und die Einschläge in den Natura 2000-Gebieten konnten gestoppt werden.

    Viel zu oft allerdings tun Regierungen dem geltenden Naturschutzrecht Gewalt an. Um die Schutzgebiete in Europa zu stärken, bedarf es starker Institutionen und Regelungen, die auch dann noch funktionieren, wenn der gegenwärtige politische Wille diesem gesellschaftlich vereinbarten Ziel zuwiderläuft. Dazu gehört auch, dass zivilgesellschaftliche Gruppen geschätzt und geschützt werden sollten, damit sie ihre soziale Kontrollfunktion bei Verletzungen geltenden Rechts wahrnehmen können. Nicht zuletzt gehören hierzu auch Umweltanwält*innen, die Umweltklagen unterstützen können, wenn ihnen ausreichende Mittel zur Verfügung stehen.

    Ein bedeutender Anteil des Waldes von hoher ökologischer Qualität ist in privater Hand. Schweden und Österreich sind nur zwei Beispiele für Regionen, in denen „Graswurzel-Bewegungen“ privater Waldeigentümer sich auf den Weg zu einer biodiversitätsförderlichen, sehr naturnahen Waldbewirtschaftung machen. Um diesen überfälligen Systemwechsel möglich zu machen, müssen ökologisch denkende Förster ein wissenschaftsbasiertes methodisches Grundgerüst bereitstellen. Außerdem wird es notwendig sein, Waldeigentümern, die bereit sind, ihre ökologisch bedeutsamen Wälder sehr naturnah zu bewirtschaften, deutlich mehr Geld als Ausgleich für etwaigen Gewinnentgang bereitzustellen. Letztlich kommt es darauf an, den Eigentümern solcher Wälder ökonomische Anreize für die Bereitstellung von Ökosystemleistungen abseits des Holzverkaufs zu bieten.

    Die ökologischen Wissenschaften haben ihren großen Nutzen für die Entwicklung wissenschaftsbasierter Waldpolitik vielfach unter Beweis gestellt. Zum Beispiel erarbeiteten Ökolog*innen die erste Karte der rumänischen Urwälder, ohne die die Unterschutzstellung einiger Urwaldflächen nicht möglich gewesen wäre (allerdings schreitet die Rodung auf dem Großteil der übrigen Flächen schnell voran). Es ist klar, dass eine umfassende Kartierung der letzten Ur- und Naturwälder in Europa absolut vordringlich ist.

    Zu guter Letzt müssen gesellschaftliche Debatten wie auch die Politik, ungeachtet von Unterschieden der Haltung und der politischen Räson, gemeinsam gegen die sich ausweitenden Desinformationskampagnen mancher wirtschaftlicher Akteure und ihrer politischen Unterstützer angehen. Das Europa-Parlament wie auch die Zivilgesellschaften in den EU-Mitgliedstaaten der letzten Jahre haben gezeigt, dass solch eine Zusammenarbeit möglich ist. Eine gemeinsam getragene Entwicklung zu mehr Nachhaltigkeit, nicht zuletzt durch den Green Deal, wird entscheidend sein, um den Druck auf die verbleibenden unberührten Wälder Europas zu verringern.

    Weiterlesen und informieren:

    Über das Autorenteam:

    Dr. Stefan Kreft und Dr. Nuria Selva sind beide Mitglied im Policy Committee der Society for Conservation Biology - Europe Region (SCB-Europe).

    Dr. Nuria Selva arbeitet für die Polnische Akademie der Wissenschaften in Kraków, Polen.
    Kontakt:
    nuria@iop.krakow.pl

    Portrait Dr. Nuria Selva

    Dr. Stefan Kreft ist bei der Naturwald Akademie in Lübeck zu erreichen.
    Kontakt: kreft@naturwald-akademie.org

    Portrait Dr. Stefan Kreft

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