Chance oder Risiko? – Digitalisierung im Naturschutz
Die Digitalisierung ist weder aus unserer beruflichen Arbeit noch aus unserem privaten Alltag wegzudenken. Wer will schon elektronische Kommunikation oder digitale Navigation, die zahlreichen nützlichen Apps, Portale und Anwendungen missen? Angesichts des enorm hohen Verbrauchs von Ressourcen und Energie stellt sich die Frage, ob die sich ausbreitende Technik nur Vorteile für den Naturschutz bringt.
Arten- und Habitatschutz stellen eine wesentliche Basis für den Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen dar. Digitalisierung ist ein Megatrend, der massive Auswirkungen auf den Naturschutz hat. Entgegen weit verbreiteter anderer Einschätzungen nutzte der Naturschutz schon in den Anfängen der – um ein Buzzword des vergangenen Jahrtausends zu nutzen – automatisierten Datenverarbeitung digitale Methoden zur Analyse von Daten und Darstellung von Ergebnissen. Gerade im Bereich der digitalen Rauminformation setzte der Naturschutz Maßstäbe der geografischen Informationsverarbeitung, zum Beispiel zur Konfliktlösung in der Raumplanung. Was ist heute anders?
Digitalisierung als Megatrend
Die heutige große Verbreitung digitaler Nutzungsszenarien und funktionsstarker Endgeräte sowie eine hohe Digitalaffinität einer großen Zahl von Menschen ermöglicht nicht nur quantitative Steigerungen, etwa der Speicherung, Verarbeitung und Darstellung von Daten. Im Gegensatz zur ursprünglich konkret ziel- oder anwendungsbezogenen Nutzung digitaler Methoden hat sie auch qualitative Nutzungsveränderungen zur Folge, die nicht immer intendiert waren. Mobiltelefone wurden nicht mit hochauflösender Kamera, großen Speichern und leistungsstarken Anwendungen (Apps) bestückt, damit floristische Kartierungen vorgenommen werden, aber es ist damit einfacher möglich. Auch wenn die Mikrofone der Geräte für etwas anderes entwickelt wurden, lassen sich damit Tierstimmen erfassen, analysieren und mit standortbezogenen Informationen verschnitten über Funk in die Cloud laden. Verbände des Ehrenamts können mit hochprofessioneller Expertise ihre Aktivitäten koordinieren und kommunizieren. Am technologischen Backend lassen sich regionale wie nationale Verteilungen darstellen und dienen so auch der Information und damit Akzeptanz der Maßnahmen.
Zufällig digital?
Dieser Trend folgte keiner Strategie. Die Digitalisierung wurde nicht für die beschriebenen Nutzungsformen im Naturschutz strukturiert entwickelt, sondern kluge Köpfe nutzten und nutzen das Potenzial der Digitalisierung für ihre jeweiligen Ziele und Akteure. Das Bundesamt für Naturschutz (BfN) arbeitet seit 2021 an einer Analyse über das Potenzial und die Risiken der Digitalisierung für Natur und Gesellschaft und hat zu diesem Zweck eine eigene Arbeitseinheit für die Erarbeitung einer „Strategischen Digitalisierung“ eingerichtet. Auf der Basis strukturierter interner Erhebungen und einer „Outside-in“-Analyse des Potenzials der Digitalisierung für den Naturschutz soll mittelfristig eine Digitalstrategie entwickelt werden. Erst auf der Basis einer abgestimmten und akzeptierten Strategie würde ein transparenter Maßstab vorliegen, auf dessen Basis nachvollziehbare Entscheidungen sowohl für die interne Digitalisierung als auch für externe Aktivitäten mit digitalen Berührungspunkten getroffen werden. Hier sind sowohl etablierte Prozesse als auch vollkommen neue Entwicklungen betroffen. Die Potenziale der Digitalisierung können so gestärkt, die Risiken minimiert werden.
Mobile und leistungsstarke Endgeräte sind in der Lage, Art und Weise, aber vor allem auch den Umfang von Datenerhebungen grundsätzlich zu ändern. Der Game Changer könnte dabei die Entstehung teilweise unstrukturierter und ebenfalls nur teilweise qualitätsgesicherter Datenbestände sein. Lange Zeit als Graus eines behördlichen Datenmanagements betrachtet, ermöglichen jedoch neue Technologien der Datenverarbeitung einen grundsätzlich anderen, ordnenden Umgang auch mit diesen Datenbeständen. Ob Techniken wie Künstliche Intelligenz, Deep Learning oder automatische Mustererkennung dann tatsächlich geeignet sind für den behördlichen Einsatz, bleibt der vertieften Betrachtung vorbehalten. Ein ganzheitlicher Bewertungsansatz von Digitalmethoden ermöglicht darüber hinaus die Berücksichtigung sozio-ökonomischer und ethischer Aspekte. Für den Naturschutz stellt sich immer die Frage, welche Natur geschützt und wie die Akteure eingebunden werden sollen. Der breite gesellschaftliche Diskurs über diese Frage kann digitale Werkzeuge nutzen, auch um digital- aber nicht immer naturschutzaffine Milieus für den Naturschutz zu gewinnen.
Bei allen Chancen der Digitalisierung für den Naturschutz muss jedoch vermieden werden, dass sie als Ersatzverhalten das Handeln zum rechten Zeitpunkt ersetzt. Die begleitende digitale Dokumentation und Darstellung des Verlusts von Arten und Habitaten ist kein Naturschutz.
Der Autor
Dr. Michael Bilo arbeitet als Direktor und Professor im Bundesamt für Naturschutz und leitet dort die Abteilung „Digitalisierung, Artenschutz-Vollzug und Nagoya-Protokoll“.