Das Meer als „grünes Kraftwerk“ – nur Augenwischerei?
Beim Nordseegipfel in Ostende im April haben die Regierungschefs der Nordsee-Anrainer 300 Gigawatt (GW) Leistung bis 2050 als Ziel für den Ausbau der Offshore-Windkapazität in der Nordsee formuliert. Die Nordsee solle damit das „grünste Kraftwerk der Welt“ werden. Eine großspurige Ankündigung. Offen bleibt die Frage: Wie grün kann ein derartiger Ausbau sein?
Unser Energiesystem auf erneuerbare Quellen umzustellen, ist alternativlos. Die Idee, die Meere als Energiestandorte zu wählen, mag in Anbetracht des Widerstands an Land und des zuverlässigeren Windes auf See auf den ersten Blick plausibel erscheinen. Das Problem ist jedoch: Auch wenn das Meer weit und leer erscheinen mag, so ist es doch heute bereits massiv übernutzt und in einem ökologisch schlechten Zustand. Nicht nachhaltige Fischerei, Sand- und Kiesabbau, Nähr- und Schadstoffeinträge und massiver Lärm stören das Ökosystem Meer empfindlich. Das Ziel, bis 2020 im Meer einen guten Umweltzustand zu erreichen, wurde klar verfehlt. Nun drängt mit der Offshore-Windenergie eine neue industrielle, sehr flächenhungrige Nutzung in den Meeresraum und wird das Ökosystem belasten.
Unterwasserschall: Bau- und Wartungsverkehr bedeuten Stress
In der Bauphase ist insbesondere der Baulärm problematisch. Neben direkter Schädigung des Gehörs können Schweinswale durch die Rammarbeiten aus bevorzugten Habitaten für die Nahrungssuche oder Fortpflanzung vertrieben werden, die Nahrungssuche wird durch die gestörte Echoortung erschwert. Der Ausbau der Offshore-Windenergie wird das Meer für Jahrzehnte in Dauerbaustellen verwandeln, mit zusätzlichem Stress für die ohnehin stark schrumpfenden Schweinswalbestände. Der mit Bau und Wartung einhergehende Schiffsverkehr stellt eine weitere großräumigere Lärmquelle dar. Neben den Schweinswalen werden auch Seevögel durch den Serviceverkehr und die Bauaktivitäten verscheucht.
Lebensraumverluste und Kollisionsrisiken für Seevögel und Fledermäuse
Während der Betriebsphase sind insbesondere Habitatverluste und Kollisionsrisiken relevante Umweltauswirkungen. Von beiden Seetaucherarten, Stern- und Prachttaucher, sowie Trottellummen ist beispielsweise bekannt, dass sie Offshore-Windparks bis in Distanzen von über zehn Kilometern meiden. Der Betrieb des Offshore-Windparks Butendiek inmitten des Hauptverbreitungsgebiets der Seetaucher und im Schutzgebiet „Sylter Außenriff/Östliche deutsche Bucht“ hat den Lebensraum der dort rastenden Seetaucher entsprechend nachweislich massiv geschrumpft.
Von erhöhten Kollisionsrisiken sind eine Vielzahl wandernder Vogel- und Fledermausarten betroffen. Die Fähigkeit, den Anlagen auszuweichen, ist je nach Art und Witterungsbedingung unterschiedlich. Die Lichtsignale der Anlagen können die vielen nachts ziehenden Vogelarten gar anlocken und das Kollisionsrisiko verstärken. Solange belastbare Daten fehlen, muss hier das Vorsorgeprinzip gelten.
Ein noch recht neuer Fokus liegt auf der Untersuchung physikalischer Effekte von Offshore-Windparks. Windgeschwindigkeiten werden bis weit hinter die Windparks reduziert. Studien zeigen, dass dadurch die Schichtung des Wassers, der Sauerstoffgehalt des bodennahen Wassers und auch die Masse des Phytoplanktons lokal verändert wird. Gerade die Veränderungen im Plankton, der Basis des Nahrungsnetzes, können weitreichende Folgen für das gesamte Ökosystem haben.
Erholung des Meeresbodens durch Fischerei-Ausschluss
Ein voraussichtlich positiver Aspekt der Offshore-Windnutzung: Zwischen den Windenergieanlagen ist Fischerei verboten. Dadurch kann sich der Meeresboden erholen, wo er nicht durch Fundamente oder Kabeltrassen beeinträchtigt wird. Hartsubstrate der Pfeiler und des Kolkschutzes bieten potenzielle Nahrungsgründe für Fische. Über positive Populationseffekte bei Fischen gibt es jedoch bisher keine klaren Erkenntnisse, ebenso wie zu potenziellen Beeinträchtigungen der sensiblen Fischlarven durch elektromagnetische Felder und Lärm der Windenergieanlagen.
Eine naturverträgliche Energiewende braucht ausreichende Finanzierung
Kernstück einer naturverträglichen Energiewende ist eine an ökologischen Kriterien orientierte Standortwahl. Hierzu hat der NABU jüngst eine Studie vorgelegt. Die verbleidenden ökologischen Effekte des Offshore-Windausbaus müssen über einen stufenweisen Ausbau und über Vermeidungs- und Minderungsmaßnahmen beim Bau und Betrieb gemildert werden – mit der Möglichkeit zur Nachjustierung. Einzelbeispiele, wie die Vereinbarung zur temporären Abschaltung von Offshore-Windparks in Schwerpunktnächten des Vogelzugs in der niederländischen Nordsee, zeigen: Ökologische Maßnahmen sind möglich, wenn Diskussionen auf Augenhöhe stattfinden. Die derzeit diskutierte finanzielle Kürzung des nationalen Artenhilfsprogramms, welches die am stärksten betroffenen Arten des massiven Energieinfrastrukturumbaus stützen soll, sind hingegen ein fatales Zeichen.
Um die beiden größten globalen Krisen, die Klimakrise und die Biodiversitätskrise gemeinsam anzugehen, darf die Energiewende nicht auf Kosten der Ökosysteme umgesetzt werden. Entsprechende Vereinbarungen stehen im Pariser Klimaabkommen und werden in wissenschaftlichen Studien gefordert. Statt Naturschutzstandards zu streichen, wie durch das Windenergie-auf-See-Gesetz, die EU-Notverordnung und im Rahmen der marinen Raumordnung geschehen, muss die ökologische Tragfähigkeit unserer Meere die Leitplanke für jegliche Meeresnutzung bilden. Selbst aus der Windenergiebranche kommt Kritik an der Streichung von Umweltverträglichkeitsprüfungen. Aufgrund des schlechten ökologischen Zustands der Meere muss der Nutzungsdruck dort grundlegend reduziert werden. Zudem gilt: Wer die Erneuerbaren will, darf beim Abfedern der Auswirkungen nicht sparen. Sonst wird die Nordsee zwar ein Kraftwerk, aber kein grünes.
Der Autor
Dominik Auch arbeitet als Referent für marine Raumordnung und Offshore-Wind beim Naturschutzbund Deutschland NABU.