„Wir brauchen im Bereich Ernährung eine Kommunikations- und Bildungsoffensive“
Nicht zuletzt die Covid-19-Pandemie und der Ukrainekrieg zeigen deutlich Schwachstellen unseres Produktions- und Konsumsystems für Lebensmittel auf. Die die Lage der Welternährung spitzt sich zu und die Anzahl der Hungernden wächst seit Jahren kontinuierlich – 2021 waren laut Welthungerhilfe als 828 Millionen Menschen chronisch unterernährt. Immer mehr Menschen können sich gesunde Lebensmittel nicht leisten – auch in Europa. Gleichzeitig landet hierzulande massenhaft Essen in der Mülltonne (rund elf Millionen Tonnen). Aktuell gibt es Anzeichen, dass die Preiserhöhungen dazu führen, dass Menschen weniger verschwenden, sagt Nina Wolff von Slow Food Deutschland.
Wie können die Verschwendung gestoppt und die Wertschätzung von Lebensmitteln gesteigert werden?
Dafür braucht es verbindliche politische und rechtliche Rahmenbedingungen, Einsicht und Umlenken seitens des Handels, neue Konzepte in der Außer-Haus-Verpflegung und das Engagement der Verbraucher*innen. Die Politik muss die UN-Nachhaltigkeitsziele zur Reduktion von Lebensmittelverschwendung halten und die Lebensmittelabfälle bis 2030 mindestens halbieren. Aus Sicht von Slow Food bräuchten wir das Zwischenziel einer 30 Prozent-Reduzierung schon bis 2025. Verbraucher*innen müssen den Wert der Lebensmittel wiedererkennen. Mehr Wertschätzung entsteht beispielsweise durch bessere Kenntnisse über Ursprung und Herstellung von Lebensmitteln. Dumpingpreise sind dafür hinderlich. Sie spiegeln in keinster Weise den wahren Wert sowie die Folgekosten von Herstellung und Verarbeitung unserer Nahrungsmittel. Es wäre daher nur konsequent, ihre aufdringlich-grelle Bewerbung zu regulieren. Aktuell gibt es Anzeichen, dass die Preiserhöhungen in Folge der Inflation dazu führen, dass Menschen weniger verschwenden.
Rund ums Jahr Früchte aus aller Welt - das ist für Konsument*innen aus reichen Industrieländern Standard. Darauf zu verzichten, fällt vielen schwer. An welchen Stellschrauben muss die Politik in Berlin und Brüssel drehen, damit regionale Produkte besser vermarktet werden
Zunächst einmal ist es wichtig zu erinnern, dass Regionalität nicht geschützt ist. Auch ein Produkt, welches in der Region nur verpackt wurde, darf als „regional“ verkauft werden. Wir brauchen also transparente Produktbeschreibungen. Das Slow-Food-Verständnis von Regionalität meint, dass die Wertschöpfung in die Regionen zurückkehrt, dass es hier Kreisläufe statt agrar- und ernährungspolitischer Sackgassen gibt. Und dass regionale Produkte auf ökologisch und sozial verantwortungsvolle Weise hergestellt werden. Nur dann ist „regional“ ein Qualitätsmerkmal. Dafür muss die Politik entsprechende Infrastrukturen sowie Betriebe aus Handwerk und Verarbeitung fördern. Was uns zunehmend abhandenkommt, sind die Strukturen und das Wissen der Menschen. Wir brauchen aber auch die Rahmenbedingungen und Umgebungen, in denen Menschen unabhängig von Geldbeutel und individuellem Wissensstand sozial und ökologisch nachhaltige Kauf- und Genussentscheidungen treffen können. Es geht also auch um die Gestaltung von Ernährungsumgebungen. Zudem wäre es wirksam, wenn die Politik ihr Narrativ überdenkt und den Verbraucher*innen Lust auf nachhaltiges Essen macht. Weniger Verzichts-Rhetorik, mehr Lust auf Handeln im Einklang mit der Natur, mehr Genuss von Gerechtigkeit. Aber natürlich wird das in Zeiten wie diesen herausfordernder.
Wie zielführend für eine zukunftstaugliche Ernährungswende sind die Maßnahmen, die in der EU-Agrarreform dafür vorgesehen sind?
Die im Sommer 2021 beschlossene Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) für die Jahre 2023-2027 bleibt weit hinter dem Anspruch zurück, der von „Farm-to-Fork“- und Biodiversitätsstrategie der EU gesetzt wurde. Es fehlt ihr weiterhin an Weitblick, an einem ernährungssystemischen Ansatz. Hinzu kommen die zahlreichen Verwässerungen im Regelwerk und bei seiner Umsetzung. Die werden in Krisenzeiten wie diesen genutzt, etwa bei der GAP-Ausnahme Verordnung zur Einrichtung von Artenvielfaltsflächen. Die ist nun auf 2024 verschoben. Das war sicherlich keine leichte Entscheidung. Wir kritisieren daran, dass es keine klare Ansage gibt, was stattdessen zeitnah für die Welternährung und Planetengesundheit getan wird. Etwa die Umwandlung der Fläche für Futtermittel in Flächen für pflanzliche Nahrungsmittel, damit einhergehend ein Rückbau der Nutztierbestände, konsequenter Ausstieg aus Agrokraftstoffen et cetera.
Was ist auf politischer Ebene am dringendsten erforderlich, damit die Ernährungswende nicht blockiert wird oder gar eine Kehrtwende vollzieht?
Wir brauchen ein System, das Urproduktion, Lebensmittelhandwerk und Ernährung qualitativ, quantitativ und auch geografisch wieder enger zusammenführt und welches Vielfalt, Gerechtigkeit sowie die Gesundheit des Planeten und der Menschen als Leitmotive hat. Fördergelder müssen entsprechend an den Leistungen für Umwelt-, Tier- und Klimaschutz sowie Biodiversität gemessen werden. Wenn die für nächstes Jahr angekündigte Ernährungsstrategie der Bundesregierung wirksam für alle ist und Ernährungspolitik als ressortübergreifende Aufgabe anerkennt, kann viel auf den Weg gebracht werden. Die damit begonnene Ernährungsdebatte muss mittel- und langfristige ernährungspolitische Ziele definieren, die an der Schnittstelle von Ernährung, Umweltschutz, Gesundheit sowie sozialer Dimension liegen. Ein Bürger*innenrat zur Ernährungsstrategie wäre ein wichtiger Schritt, um den Bundestag miteinzubeziehen. Die schwierige wirtschaftliche Situation darf nicht dazu führen, dass die Strategie inhaltlich weniger konsequent ausfällt. Im Gegenteil müssen die sozialen und ökologischen Belange bei der Erarbeitung der Strategie nun noch stärker als ohnehin mitbedacht werden. Und wir brauchen im Bereich Ernährung eine Kommunikations- und Bildungsoffensive!
„Essen ist politisch“, so lautet ein Leitgedanke des Bündnisses Meine Landwirtschaft, dem Slow Food angehört. Am Esstisch entscheiden wir über die Zukunft mit. Denn, was wir essen, hat Folgen für Mensch, Tier, Klima, Umwelt und Gesundheit. Wodurch können Sie erreichen, dass tatsächlich gute, sauber und fair produzierte Mahlzeiten auf dem Teller landen?
Ja, dass Essen politisch ist, gehört auch zu den Ur-Slow-Food-Slogans. Deswegen hat Slow Food für sich drei Handlungsfelder definiert, in denen die Bewegung weltweit engagiert ist. Das ist der Schutz der biologischen und kulturellen Vielfalt, die Bildungsarbeit – das heißt Wissen an unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen vermitteln, sie sensibilisieren und mobilisieren – für eigenes Engagement und nachhaltig genussvolle Ernährungsweisen und -entscheidungen. Die dritte Säule ist die politische Interessenvertretung, wobei wir Austausch und Dialog mit politischen Entscheidungsträger*innen suchen und den Schulterschluss mit anderen Organisationen, um Kräfte zu bündeln und gemeinsame Ziele voranzutreiben. So auch mit dem DNR. Slow Food zeigt also, wie politische, praktische und kulinarische Lösungen aussehen und, dass alle die Ernährungswende mitverantworten. Neben den politischen Rahmenbedingungen müssen auch die Produzierenden, Lebensmittelhandwerker*innen und Verbraucher*innen beim Thema Ernährung eine Haltung einnehmen, die unser gemeinsames Zusammenleben auf diesem Planeten verbessert. Und zwar indem wir unsere Ernährungsweise an vier wesentlichen Punkten ausrichten: deutlich pflanzlicher, ökologischer, regionaler beziehungsweise lokaler und ohne Verschwendung. Sie sind Grundlage einer Kultur des aufgeklärten und maßvollen Genießens. Zudem müssen wir die Menschen im Globalen Süden darin unterstützen, Zugang zu Land und regionalem Saatgut zu erhalten, lokale und regionale Erzeugungsstrukturen dort wieder aufzubauen, das Lebensmittelhandwerk und -wissen zu fördern.
Ein wichtiger Eckpfeiler in der Arbeit von Slow Food ist die Bildung. Wie gelingt es, Menschen von Kindesbeinen an den Wert guten Essens zu vermitteln?
Aus unserer Erfahrung ist es essenziell, dass gerade die jungen Lernenden mit anpacken können. Wir müssen Erfahrungsräume schaffen, in denen es darum geht, wo unser Essen herkommt, und wie wir im Einklang mit der Welt genießen können. Statt ihnen in Kitas und Schulen das Essen einfach vorzusetzen, sollten Heranwachsende bei Essensentscheidungen aktiv mit einbezogen werden. Wir machen da beispielsweise wunderbare Erfahrungen mit den Slow-Mobilen. Das sind ausgebaute Bauwagen, mit den Slow-Food-Engagierte an verschiedenen Standorten in Deutschland unterwegs sind und Kindern Lust darauf machen, Essen zuzubereiten.
Verraten Sie uns Ihr Lieblingsgericht?
Ich schätze eine vielfältige Küche mit vorwiegend Pflanzlichem, daher liebe ich Verwandlungskünstler wie die Minestrone, die sich saisonal anpassen lässt und in der so mancher Rest aus dem Gemüsefach ein würdiges Ende findet. Ein handwerkliches und auch sonst in jeder Hinsicht anständiges Brot dazu: das perfekte Alltagsglück.
Interviewpartnerin
Die Juristin und Fischereiexpertin Dr. Nina Wolff ist Vorstandsvorsitzende von Slow Food Deutschland.
Publikation
Vergangenen Monat - anlässlich des Welternährungstags - veröffentlichte Slow Food einen Appell für die künftige bundesweite Ernährungsstrategie: „Unser Essen: gut und gerecht!“