Aus für Tierversuche: Aufbruchstimmung in Europa
Nach Jahren der Stagnation kommt Bewegung in den Ausstieg aus dem Tierversuch. Die Tierschutzorganisationen bekommen Rückenwind von Industrie, EU-Abgeordneten und EU-Bürger*innen. Die USA ermöglichen die Zulassung von Arzneimitteln ohne Tierversuche. Eine kleine Revolution, die eine Steilvorlage für Deutschland sein sollte.
Vor zehn Jahren trat das EU-weite Vermarktungsverbot für in Tierversuchen getestete Kosmetika in Kraft. Damals galt das wegweisende Verbot als Meilenstein und es bewirkte, dass mehr tierversuchsfreie Testmethoden entwickelt wurden. Die anstehende Revision der Europäischen Chemikalienverordnung REACH könnte jedoch zu vielen zusätzlichen Tierversuchen führen. Da auch die Wirtschaft keine Freundin der geplanten Überarbeitung ist, wurde die Revision vorerst auf das vierte Quartal 2023 verschoben. In dieser Verzögerung liegt eine Chance für die Tiere, denn die Zeit kann dazu genutzt werden, um die EU davon zu überzeugen, statt leidvollen Versuchen am Tier bereits vorhandene tierfreie Verfahren (NAMs) einzusetzen.
Mehr als fünf Millionen Tiere zu Versuchszwecken in Deutschland
Und dies ist dringend nötig: Fast neun Millionen Tiere wurden im Jahr 2020 in europäischen Laboren eingesetzt, die meisten davon in Deutschland. Schätzungsweise kann man allerdings von mindestens doppelt so vielen Tieren ausgehen, also um die 20 Millionen Tiere, welche für oder in Versuchen litten und starben. Nicht in der EU-Statistik enthalten sind nämlich all die Tiere, die getötet wurden, um beispielsweise Organe und Gewebe zu entnehmen. Ebenso fehlen die sogenannten überzähligen Versuchstiere die zwar für wissenschaftliche Zwecke gezüchtet und getötet, aber beispielsweise aufgrund des falschen Geschlechts oder des nicht passenden Genotyps letztlich nicht in Versuchen eingesetzt wurden. In Deutschland starben 2021 über 2,5 Millionen Tiere im direkten Zusammenhang mit Tierversuchen und die Zahl der sogenannten überzähligen Versuchstiere betrug noch einmal über 2,5 Millionen Tiere.
Dabei wünscht sich eine große Mehrheit ein baldiges Ende von Tierversuchen. Die über 1,2 Millionen Unterschriften der Europäischen Bürgerinitiative „Save Cruelty Free Cosmetics – Für ein Europa ohne Tierversuche“ senden ein deutliches Signal. Unterstützt wird diese Meinung auch vom EU-Parlament: 97 Prozent der Abgeordneten hatten 2021 für einen Ausstiegsplan aus dem Tierversuch gestimmt – ein Ergebnis, das die Kommission nicht ignorieren kann. Eine im vergangenen November in acht EU-Ländern mit hohem Tierverbrauch durchgeführte Umfrage zeigt ebenfalls deutlich, dass die EU-Bürger*innen einen Wandel hin zu tierversuchsfreien Lösungen wünschen. Die Ergebnisse der Umfrage unterstreichen insbesondere die Notwendigkeit, mehr zu unternehmen, um den vollständigen Ersatz von Tieren, welche für wissenschaftliche Zwecke verwendet werden, zu beschleunigen und sich in Richtung tierfreier Wissenschaft und Innovation zu bewegen (76 Prozent der Befragten stimmten zu). In Deutschland sprachen sich sogar 84 Prozent der Befragten dafür aus, dass die EU eine koordinierte Strategie für den Übergang zu wissenschaftlicher Forschung, Prüfung und Ausbildung ohne den Einsatz von Tieren entwickeln soll.
Wissenschaftler*innen für tierfreie Verfahren
Auch in der Wissenschaft werden stetig mehr Stimmen laut, die bessere und zuverlässigere Methoden als den Tierversuch fordern. Eine Gruppe internationaler Unternehmen, die Human-on-a-Chip-Technologien entwickeln, hatte vergangenes Jahr in einem Brief an Abgeordnete des amerikanischen Kongresses auf die Unzuverlässigkeit von Tierversuchsergebnissen hingewiesen. Die Autoren plädierten für den Einsatz von mikrophysiologischen Systemen, Organchips, Sphäroiden und Organoiden, von denen ihre Genauigkeit und bessere Vorhersage der Toxizität im Menschen bekannt sind. Unzählige Validierungsstudien der letzten Jahre belegen die Wirksamkeit von tierfreien Verfahren. Die USA zogen daraus Konsequenzen: Ende Dezember 2022 unterzeichnete US-Präsident Joe Biden den „FDA Modernization Act 2.0“ (Modernisierungsgesetz der Arzneimittelzulassungsbehörde). Nach diesem Gesetz muss die Sicherheit von Arzneimitteln nicht mehr zwangsläufig an Tieren getestet werden, damit ein Medikament zugelassen wird. Eine revolutionäre Entscheidung. Sie könnte nach mehr als 80 Jahren Sicherheitsprüfungen an Tieren eine deutliche Reduktion von Tierversuchen und einen Boom für tierversuchsfreie Verfahren einleiten. Darüber hinaus hat die US- Lebens- und Arzneimittelbehörde (Food and Drug Administration, FDA) angekündigt, 2023 eine „umfassende Strategie“ für alternative Testmethoden zu entwickeln.
EU und Deutschland: Reduktionsstrategie als Einstieg in den Ausstieg nutzen
Auch auf anderer Ebene gibt es positive Signale: Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) forderte kürzlich in einer Erklärung ihre 38 Mitgliedstaaten auf, dringend nationale und regionale Ressourcen für den Nachweis der Reproduzierbarkeit und Zuverlässigkeit von tierversuchsfreien Methoden zu mobilisieren. Es sei unerlässlich, dass die fördernden Institutionen der Bewertung und Validierung neuer wissenschaftlicher Verfahren Vorrang einräumten. Angesichts der EU-weiten Unterstützung für eine Wissenschaft ohne Tierversuche und der beeindruckenden Entwicklungen im Bereich der tierversuchsfreien Methoden verfügt die EU über alle Mittel, die für einen erfolgreichen Übergang zur Wissenschaft ohne Tierversuche erforderlich sind. Jetzt kommt es darauf an, dass die EU und die Bundesregierung diesen klaren Auftrag endlich umsetzten.
Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, eine Strategie zur Reduzierung von Tierversuchen umzusetzen und die Forschung zu tierversuchsfreien Methoden verstärkt zu fördern. Der Bundesverband Menschen für Tierrechte macht im Rahmen der Gemeinschaftskampagne „Ausstieg aus dem Tierversuch. JETZT!“ unerlässlich Druck auf die Bundesregierung und fordert, diesen sogenannten Reduktionsplan als Tür für einen echten Ausstiegsplan zu nutzen.
Die Autorin
Die Biologin Carolin Spicher arbeitet als Fachreferentin zum Thema Tierversuche bei Menschen für Tierrechte – Bundesverband der Tierversuchsgegner.