Vergiftete Erde
Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) hat die Umweltverschmutzung durch Chemikalien zur dritten großen Umweltkrise ausgerufen - neben der Klima- und der Biodiversitätskrise. Das mag viele überraschen und zeigt, wie wenig diese dritte Krise in der Öffentlichkeit und der Politik präsent ist.
Schätzungen zufolge sind etwa 350.000 verschiedene Chemikalien weltweit auf dem Markt. Gleichzeitig soll sich die globale Produktion von Chemikalien ebenso wie deren Absatz bis zum Jahr 2030 verdoppeln, wie der Global Chemicals Outlook II des UNEP von 2019 feststellt. Leider sind nicht alle Chemikalien harmlos. So zeigt eine Studie der Europäischen Umweltagentur, dass auf dem europäischen Markt 62 Prozent der Menge aller genutzten Chemikalien gesundheitsgefährdend und 35 Prozent umweltschädlich sind. Niemand kann genau sagen, wie vielen Chemikalien wir alle jeden Tag ausgesetzt sind und welche davon schädlich sind. Schadstoffe belasten auch die Umwelt schwer. Modellierungen zeigen beispielsweise, dass durch Eisschmelze, bedingt durch den Klimawandel, eine vierfach erhöhte Konzentration von langlebigen organischen Schadstoffen (Persistant Organic Pollutants, POPs) in der Umwelt entstehen wird, selbst wenn diese schon reguliert oder verboten wurden. Böden, Luft und Gewässer werden weltweit durch Schadstoffe und Pestizide stark verschmutzt. In Deutschland gibt es beispielsweise zahlreiche mit per- und polyfluorierten Alkylverbindungen (Pper- and Polyfluoroalkyl Substances, PFAS) kontaminierte Flüsse und Böden, die womöglich niemals dekontaminiert werden. Auch Tierpopulationen sind gefährdet. Sogar in Kleinstlebewesen im Marianengraben wurden laut UNEP-Outlook POPs in besonders hohen Konzentrationen nachgewiesen.
Gefahr für die Gesundheit
Die Weltgesundheitsorganisation WHO stellte fest, dass im Jahr 2016 circa 1,6 Millionen vermeidbare Todesfälle auf Chemikalien zurückzuführen waren. Dabei wurde nur eine sehr geringe Anzahl an Schadstoffen und Krankheiten in dieser Übersicht berücksichtigt. Es kann also von einer deutlich höheren Zahl ausgegangen werden. Besonders besorgniserregend sind beispielsweise neue Erkenntnisse zur Auswirkung von Schadstoffen auf die Fruchtbarkeit. Die weltweite Fruchtbarkeit ist in den letzten 50 Jahren um mehr als 50 Prozent gesunken. Man kann sagen, dass heute ein Mann nur halb so viel Spermien hat wie sein Großvater.
Die Wissenschaft ist sich weitgehend einig, dass Chemikalien ein signifikanter und „ziemlich sicher unterschätzter“ Beitrag zur globalen Krankheitslast sind. Die Inzidenz von hormonell bedingten Erkrankungen wie Hodenhochstand, Hodenkrebs, Gehirntumor oder Leukämie stieg in den letzten 20 Jahren rapide. Die Gesundheitskosten, gemessen nur an einer kleinen Anzahl hormonschädlicher Stoffe, betragen in der EU für männliche Reproduktionsstörungen etwa 15 Milliarden Euro jährlich, für Übergewicht und Diabetes über 18 Milliarden Euro jährlich und für neurologische Schäden über 150 Milliarden Euro jährlich. Besorgniserregend ist auch der drastische Anstieg von Pestizidvergiftungen weltweit. Sie sind von 25 Millionen im Jahr 1990 auf heute 385 Millionen gestiegen.
Massive Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft
Es gibt zahlreiche Studien, die die Auswirkungen von Schadstoffen auf die Ökosysteme belegen, darunter letale Effekte auf Fische durch Flammschutzmittel, Unterdrückung des Immunsystems bei Robben und Schildkröten, Feminisierung von männlichen Fischen, Insektensterben, Begünstigung von toten Zonen in den Weltmeeren durch Phosphor- und Nitrogen-Eintrag, Schädigung von Korallenriffen durch Chemikalien, die zum Beispiel in Sonnencreme genutzt werden. Die WHO und das UNEP haben in ihrem wissenschaftlichen Bericht zu hormonverändernden Stoffen diese als „globale Bedrohung“ für Umwelt und Gesundheit bezeichnet.
Seit Jahren ist bekannt, dass gefährliche Chemikalien etwa in der Textilproduktion Flüsse und Meere verschmutzen. Es handelt sich dabei unter anderem um Schwermetalle, hormonell wirksame Stoffe, besonders langlebige Schadstoffe wie per- und polyfluorierte Chemikalien (PFCs) und Nonylphenol Etoxilate. So können in Färbeprozessen mehr als 1.600 Chemikalien verwendet werden. Viele dieser Stoffe sind krebserregend, erbgutverändernd, fortpflanzungsschädigend und stören das Hormonsystem.
Hier zeigt sich auch die gesellschaftliche Dimension der Chemikalienkrise: Oft sind die ärmsten Bevölkerungsgruppen schwerer betroffen, denn ihnen fehlt unter anderem sauberes Trinkwasser. Fischfang als Nahrungsgrundlage und Einkommensquelle ist nicht mehr möglich. Diese Mehrfachbelastung durch Chemikalienverschmutzung ist in vielen Expositionsszenarien zu beobachten.
Umstellung von giftiger zu grüner Chemie unerlässlich
Die Verbindungen zur Klima- und Biodiversitätskrise liegen auf der Hand. Ohne eine gemeinsame Betrachtung lassen sich die Krisen nicht bewältigen. Eine Transformation der Chemiebranche weltweit ist dringend nötig. Dazu gehört eine absolute Abkehr von der Produktion von Schadstoffen hin zur grünen Chemie. Gleichzeitig müssen Inhaltsstoffe entlang des gesamten Lebenszyklus transparent für alle gemacht werden. Dies dient nachgelagerten Lieferketten, politischen Regulatoren und Verbraucher*innen. Nationale, regionale und internationale regulatorische Rahmensetzung zum Schutz von Umwelt und Gesundheit braucht Entschlossenheit, ausreichend Finanzierung und eine deutlich höhere Priorität auf der politischen Agenda. Auch die Medien sollten sich nicht von vermeintlich komplizierten Wörtern und komplexen Inhalten abhalten lassen, mehr über Chemikalien zu berichten. Gemeinsam mit viel Kraft und Willen könnte eine gesunde Umwelt für alle erreicht werden.
Die Autorin
Alexandra Caterbow ist Co-Direktorin und Mitgründerin von Health and Environment Justice Support (HEJSupport).