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Wettbewerbsfähigkeit: Draghi-Bericht erregt die Gemüter
EU-News | 11.09.2024
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Wettbewerbsfähigkeit: Draghi-Bericht erregt die Gemüter

Mario Draghi und Ursula von der Leyen mit dem Bericht über die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit am 9. September 2024
© European Union, 2024 (Aurore Martignoni)

Der von der EU-Kommission beauftragte Bericht zur europäischen Wettbewerbsfähigkeit ist da. Das Europäische Umweltbüro (EEB) mahnte, dass die europäische Industrie eine intelligente Politik brauche, nicht nur Investitionen. Innovationen dürften zudem nicht auf Kosten von Mensch und Natur gehen. Das Klima-Aktionsnetzwerk CAN Europe findet die vorgeschlagene „Vereinfachungs“-Agenda äußerst bedenklich. HEAL kritisiert chemiepolitische Argumente und der WWF fordert die Anerkennung des Tiefseebergbau-Moratoriums.

Der Wirtschaftswissenschaftler, ehemaliger italienischer Ministerpräsident und ehemaliger Präsident der Europäischen Zentralbank Mario Draghi hat Europa in einer Welt wachsender Konkurrenz, zunehmender Krisen, alternder Bevölkerung und stagnierender Wirtschaft einen recht teuren Spiegel vorgehalten. Mehrere hundert Seiten hat der zweiteilige Draghi-Bericht über „Die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit“, die Draghi am 9. September vorgestellt hat (Video-Mitschnitt). Er liefert konkrete Vorschläge, wie die „drei Transformationen“, die angesichts schrumpfenden Produktivitätswachstums gegenüber den USA und China, vor Europa liegen, bewältigt werden können. Er meint die Notwendigkeit, erstens Innovation zu beschleunigen und neue Wachstumsmotoren zu finden, zweitens die hohen Energiepreise zu senken und gleichzeitig die Dekarbonisierung und den Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft fortzusetzen. Drittens müsse Europa auf „eine Welt mit weniger stabilen geopolitischen Verhältnissen reagieren, in der Abhängigkeiten zu Schwachstellen werden und Europa sich in Bezug auf seine Sicherheit nicht mehr auf andere verlassen kann“. Um die im Bericht dargelegten Ziele zu erreichen, seien nach den jüngsten Schätzungen der Kommission zusätzliche Investitionen in Höhe von mindestens 750 bis 800 Milliarden Euro jährlich erforderlich. Die Gesamtsumme dürfte jedoch zu niedrig angesetzt sein, da nicht alle in diesem Bericht genannten Ziele berücksichtigt seien, heißt es auf Seite 281 - erhebliche zusätzliche Investitionen seien erforderlich.

Zusammen mit dem kürzlich vorgelegten Letta-Bericht über den Binnenmarkt (EU-News 19.04.2024) dürfte der rechtlich nicht bindende Draghi-Bericht erheblichen Einfluss auf die künftige EU-Wirtschafts- und Außenpolitik, die „Mission Letters“ an die künftigen EU-Kommissare und -Kommissarinnen sowie für das Arbeitsprogramm der EU-Kommission generell haben.

Worum geht es?

Part A ist ein 69-seitiger Text, der mit „Eine Wettbewerbsstrategie für Europa“ betitelt ist. Draghi sieht drei Bereiche, in denen dringend etwas passieren muss. Der aus Draghis Sicht wichtigste ist eine kollektive neue Ausrichtung, um Innovationslücken zu schließen, besonders gegenüber den USA und China im Bereich der Spitzentechnologien. Der zweite Aktionsbereich ist ein gemeinsamer Plan für Dekarbonisierung und Wettbewerbsfähigkeit. Der dritte ist die Erhöhung der Sicherheit und die Verringerung geopolitischer Abhängigkeiten.

Part B liefert auf 328 Seiten eine „eingehende Analyse und Empfehlungen“. Dabei werden zehn sektorale Politiksektoren behandelt, nämlich Energie, Kritische Rohstoffe, Digitalisierung und Hochtechnologie, energieintensive Industrien, Saubere Industrietechniken, Autoindustrie, Verteidigung, Weltraum, Pharmakologie sowie Verkehr und Transport. Unter den zweiten Abschnitt fallen horizontale Politikmaßnahmen wie beschleunigte Innovationen, Fähigkeits- und Kompetenzlücken schließen, konsequente Investitionen, Wettbewerb erneuern und die EU-politische Führung stärken.

Wettbewerbsfähigkeit in Zeiten planetarer Krisen kein Wert an sich – Reaktionen aus Umweltsicht

Ja, die Europäische Union hinkt aufgrund mangelnder Investitionen, schleppender Innovation und hoher Energiepreise ökonomisch hinter ihren globalen Konkurrenten her. Umweltorganisationen mahnen jedoch zur Vorsicht bei den vorgeschlagenen Zielen und Lösungen. 

Das Europäische Umweltbüro (EEB) reagierte mit einer kritischen Mahnung auf den Bericht. Wenn Europa wirklich führend sein wolle, müsse es sich bei dem Wettlauf an die Spitze darauf konzentrieren, die Menschen und den Planeten in den Mittelpunkt seiner industriellen Strategie zu stellen. Die europäische Industrie brauche „intelligente Politik“, nicht nur finanzielle Investitionen. Innovationen dürften nicht auf Kosten von Mensch und Natur geschehen. Die Dekarbonisierung sei zwar entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit der EU, aber Draghis „technologieneutraler“ Ansatz sei „gefährlich“. Kernenergie und Kohlenstoffspeicherung CCS verlangsamten den grünen Übergang nur. „Erneuerbare Energien sind schneller, billiger und effektiver“, so die Organisation auf X.

Christian Schaible, Leiter des EEB für umweltfreundliche Industrie, kritisierte: „Ein Wettlauf mit China und den USA ist nicht nur wirtschaftlich unvernünftig, sondern wird die geopolitischen Spannungen nur weiter anheizen. Europas wahrer Wettbewerbsvorteil liegt in der Führung eines globalen Wandels, der Entgiftung, Entschlackung und Wiederherstellung vorantreibt.“ Fairen und transparenten Partnerschaften, hochwertigen grünen Arbeitsplätzen und höchsten Umwelt- und Sozialstandards müssten Vorrang eingeräumt werden, um die Deindustrialisierung in kritischen Sektoren zu bekämpfen. 

Das EEB sieht weitere „klare Mängel“ im Bericht. So gebe es keine einzige Erwähnung der EU-Industrie als Lösungsanbieter für nachhaltige Wasserdienstleistungen, Lebensmittelproduktion oder andere lebenswichtige Dienstleistungen. Es fehle außerdem eine Klärung, ob „strategisch wichtige Sektoren“ tatsächlich mit nachhaltiger Produktion und der Bewältigung der dreifachen planetarischen Krise vereinbar sind, und eine Betonung des „polluters pay“-Prinzips, der die Verursacher von Umweltverschmutzung zur Kasse bittet. Das EEB empfiehlt ein ständiges EU-Investitionsinstrument in Höhe von mindestens 1,6 Prozent des EU-Bruttoinlandsproduktes pro Jahr, damit die Mitgliedstaaten in den Übergang zu einer Wirtschaft des Wohlstands und eines sicheren Planeten investieren können. Suffizienz - die Verringerung des Gesamtverbrauchs – sei immer noch „der stärkste Hebel zur Erhöhung der Sicherheit und zur Verringerung der Abhängigkeit“.

CAN: Bericht enthält „besorgniserregende Deregulierungselemente“

Ähnlich argumentiert CAN Europe. Die Organisation forderte die europäischen Staats- und Regierungschefs auf, sich auf eine grüne Industriepolitik zu konzentrieren, die eine langfristige wirtschaftliche und ökologische Nachhaltigkeit sicherstellt. Zwar erkenne Draghi in seinem Bericht an, dass Klima- und Industriepolitik sich gegenseitig verstärken sollten, und empfiehlt auch „einige positive Elemente in Richtung Dekarbonisierung und Kreislaufwirtschaft“. Aber bei dem dringenden, koordinierten Ansatz auf EU-Ebene zur Bewältigung der Klimakrise und der Energiesicherheit bleibe er hinter dem Notwendigen zurück, zumal die Zivilgesellschaft nicht ausreichend einbezogen werde. Die CAN Europe-Direktorin Chiara Martinelli sagte: „Der beste Weg, um in dieser 'existenziellen Herausforderung' der EU zu überleben, wie sie von Draghi selbst beschrieben wurde, ist eine grüne Industriepolitik, die die Produktion von Netto-Null-Technologien anregt, unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen beendet, indem wir auf 100 % erneuerbare Energiequellen umsteigen, und unseren Materialbedarf reduziert. Die Herstellung hochwertiger, klimaneutraler Produkte, die den höchsten Umweltstandards entsprechen, wird in Zukunft der größte Wirtschaftsfaktor der EU sein“. Statt sich auf nachgelagerte Reyclingoptionen zu konzentrieren, müsse vielmehr die Ressourcennutzung reduziert werden. Die Mobilisierung von Geldern zur Erreichung ehrgeiziger Dekarbonisierungsziele müsse durch einen EU-weiten Ansatz mit gestärkter öffentlicher Kontrolle und klaren sozialen und ökologischen Bedingungen für die Industrie verknüpft sein. Die vorgeschlagene „Vereinfachungs“-Agenda sei besonders bedenklich. Sie enthalte „in einigen Teilen besorgniserregende Deregulierungselemente“, die Klima- und Umweltziele gegeneinander ausspielen. So solle es vorübergehende Ausnahmen von der Umweltgesetzgebung geben, bis die Klimaneutralität erreicht ist. „Der Bericht stellt auch die Anwendung des Verursacherprinzips infrage, indem er eine Ausweitung der kostenlosen Zuteilung von Verschmutzungsrechten (ETS) in Betracht zieht“, kritisierte die Organisation. 

HEAL: PFAS extrem gesundheitsschädlich, 
WWF: Tiefseebergbau keine Option

Die Health and Environment Alliance (HEAL) ist besorgt über die Haltung Draghis zur REACH-Verordnung und das vorgeschlagene Verbot von Per- und Polyfluoralkylsubstanzen (PFAS) in bestimmten Sektoren. Der Bericht betone wirtschaftliche Auswirkungen einer Abkehr von PFAS mangels alternativer Technologien. Angesichts der hohen Gesundheitskosten und schwerwiegender Folgen für die Umwelt (Trinkwasser, Böden, Lebensmittel) sei diese Einstellung aber „grundlegend falsch“. Der Draghi-Bericht verkenne, dass die vorgeschlagene EU-weite PFAS-Beschränkung Ausnahmen für bestimmte Industrien und Verwendungszwecke bereits zulassa. PFAS werden mit zahlreichen gesundheitsschädlichen Auswirkungen in Verbindung gebracht, darunter Krebs, Schilddrüsenerkrankungen, Immunsystem- und Hormonstörungen. Europa müsse die Gesundheit der Menschen schützen und die vorgeschlagene EU-weite Beschränkung von PFAS unterstützen und klare Fristen für etwaige Ausnahmeregelungen festlegen.

Der WWF kritisierte auf X, dass Draghi zur Gewinnung kritischer Rohstoffe auch EU-Investitionen in den Tiefseebergbau fordere, und wies daraufhin, dass elf Mitgliedstaaten bereits ein Moratorium unterstützten. [jg]

EU-Kommission: Draghi-Report Part A  und Part B 

EEB: European industry needs smart policy, not just funding 

CAN: Draghi’s report missing crucial elements: The green and just transition is Europe’s best bet for lasting competitiveness

Medienberichterstattung: 

Draghi demands €800B cash boost to stem Europe’s rapid decline – POLITICO

Mario Draghi’s plan to fix a broken Europe already looks impossible – POLITICO

Draghi-Bericht: Produktivitätswachstum ist „existenzielle Herausforderung“ für Europa - Euractiv

Draghi’s report on EU competitiveness: Five key takeaways | Euronews

Nachtrag: Draghi-Bericht vor dem EU-Parlament

Das Europäische Parlament hat am 17. September über den Bericht zur Zukunft der Wettbewerbsfähigkeit debattiert (Video-Mitschnitt der Statements aus dem Parlament) - allerdings ohne Anwesenheit des Urhebers des Berichts, wie kritisiert wurde.

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