Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Kohleausstieg bis 2030 sozial gerecht umsetzen
Stellungnahme ehemaliger Mitglieder der Kommission Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung (KWSB)
Berlin - Gemeinsame Stellungnahme von Antje Grothus (Initiative Buirer für Buir), Martin Kaiser (Geschäftsführer Greenpeace Deutschland), Prof. Dr. Kai Niebert (Präsident des Umweltdachverbandes Deutscher Naturschutzring, DNR), Dipl. Ing. Reiner Priggen (Vorstandsvorsitzender Landesverband Erneuerbare Energien NRW), Prof. Dr. Hubert Weiger (Ehrenvorsitzender des BUND) und Hannelore Wodtke (Grüne Zukunft Welzow)
Das Bundesverfassungsgericht hat am 29. April ein historisches Urteil gefällt, das das deutsche Klimaschutzgesetz für teilweise verfassungswidrig erklärt. Demnach würden die derzeit geltenden Vorschriften des Klimaschutzgesetzes die hohen Emissionsminderungslasten unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030 verschieben und damit nachfolgende Generationen zu stark belasten und in ihren Freiheitsrechten einschränken. Da die Energiewirtschaft nach wie vor einen Löwenanteil der Emissionslast Deutschlands trägt, wird die Umsetzung des Urteils und des angehobenen Klimaschutzziels der EU unmittelbare Auswirkungen auf den Kohleausstieg haben.
Als ehemalige Kommissionsmitglieder haben wir den im Kommissionsergebnis gefundenen Kompromiss zum Ausstieg aus der Kohleverstromung mitgetragen, um den klimapolitischen Stillstand Deutschlands zu durchbrechen. Dies war gestern wie heute richtig, denn seitdem wurde in Deutschland nicht mehr über das ob, sondern nur noch über das wie der Transformation aller Sektoren diskutiert.
Es war der von uns verhandelte und von allen Mitgliedern der Kommission akzeptierte steile Einstieg in den Ausstieg, der uns 2019 zur Zustimmung ermöglicht hat. Schon bei der Abstimmung des Ergebnisses haben wir deutlich gemacht, dass allerdings weder das anvisierte Ausstiegsdatum 2038 noch der unkonkrete Ausstiegspfad ausreichend waren, um einen angemessenen Beitrag des Energiesektors zum Klimaschutz zu gewährleisten. Wir haben schon damals darauf hingewiesen, dass die kumulierten CO2-Emissionen des Energiesektors zu hoch waren, um einen angemessenen Beitrag zum Pariser Klimaabkommen zu leisten. Umso enttäuschter waren wir, als die Empfehlungen der Kommission im Bundeskanzleramt in Hinterzimmergesprächen weiter verwässert wurden.
Das Bundesverfassungsgericht hat nun genau dieser Politik des Verwässerns und Verschiebens einen Riegel vorgeschoben. Das Urteil stellt eine klimapolitische Zäsur dar. Gemeinsam mit dem neuen EU-Klimaziel wird dies einen Kohleausstieg in Deutschland bis 2030 unausweichlich werden lassen. Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, neben der Revision des Klimaschutzgesetzes folgende Änderungen beim Kohleausstieg umzusetzen:
Revisionszeitpunkt vorziehen
In Erwartung der Verschärfung der klimapolitischen Lage haben wir in den Kompromiss der Kohlekommission verschiedene Revisionszeitpunkte hineinverhandelt, um die Annahmen, die Umsetzung des Maßnahmenpaketes der Kommission und ihre Wirkungen in regelmäßigen Abständen umfassend zu evaluieren. Eine erste Revision darf nicht erst 2023, sondern muss umgehend im Rahmen der Novelle des Klimaschutzgesetzes erfolgen.
Ausstiegsdatum auf spätestens 2030 festlegen
Das Bundesverfassungsgericht kritisiert an der aktuellen Ausgestaltung des Klima-schutzgesetzes, dass das Deutschland klimawissenschaftlich noch zustehende CO2-Budget schon 2030 weitestgehend aufgebraucht wäre. Einen Hauptanteil daran tragen die CO2-Emissionen, die durch den viel zu späten Kohleausstieg im Jahr 2038 ausgestoßen werden. Der Kohleausstieg wird aufgrund des Gerichtsbeschlusses und auch des neuen EU-Klimaziels spätestens 2030 erfolgen. Um den Beschäftigten und den Regionen Planungssicherheit zu geben, fordern wir die Bundesregierung deshalb auf, den Ausstieg entlang steigender CO2-Preise rechtsverbindlich für 2030 abzusichern.
Stetigen Abschaltpfad umsetzen
Wir haben in der Kohlekommission einen steilen Einstiegspfad für die Abschaltung von Kohlekapazitäten verhandelt, weil wir die Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts teilen, dass so schnell wie möglich gehandelt werden muss. Die anschließenden Verwässerungen des Pfades im politischen Prozess waren nicht nur klimapolitisch falsch, sondern sie sind auch verfassungsrechtlich offensichtlich problematisch. Die Bundesregierung muss im Rahmen vorgezogenen Revision der Maßnahmen Schritte ergreifen, um den in der Kommission angelegten stetigen Reduktionspfad auf 2030 zu verkürzen. Dies muss umgehend geschehen, um auch den Beschäftigten und den Regionen eine Perspektive zu geben.
Den Ausbau erneuerbarer Energieträger massiv beschleunigen
Die verfassungsrechtliche Anordnung eines beschleunigten Klimaschutzes bedeutet eine massive Beschleunigung des Ausbaus erneuerbarer Energien. Bis 2035 muss der Stromsektor klimaneutral sein. Bis 2030 müssen mindestens 80% des Strombedarfs aus erneuerbaren Energien gedeckt werden. Die Bundesregierung muss das EEG unmittelbar reformieren.
Datteln IV vom Netz nehmen
Die Empfehlungen der KWSB waren für uns nur zustimmungsfähig, da die Inbetriebnahme neuer, im Strommarkt hoch ausgelasteter und damit sehr emissionsreicher Kraftwerke ausgeschlossen werden sollte. Durch die Inbetriebnahme des Kraftwerksblocks Datteln IV im Jahr 2020 steigen für die 2020er Jahre auch im Bereich der Steinkohlekraftwerke die Emissionen. Wir fordern deshalb, das Kraftwerk so schnell wie möglich vom Netz zu nehmen.
Dörfer erhalten
Die im Rahmen des Kohleausstiegsgesetzes beschlossenen höheren Fördermengen im Tagebau Garzweiler verletzen den KWSB-Kompromiss im Hinblick auf die damit verbundenen schwerwiegenden Belastungen für Dörfer und Menschen. Die vollständige Auskohlung des Tagebaus Garzweiler war energiepolitisch nie notwendig und ist es im Rahmen eines Kohleausstiegs bis 2030 erst recht nicht mehr. Die Bundesregierung muss die Heimat der Menschen in den Braunkohleregionen erhalten und garantieren, dass keine weiteren Dörfer mehr für die Kohleverstromung abgebaggert werden.
Anpassung der Entschädigungszahlungen
Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, besonders aber über das EU-Klimaziel wird ein starker Anstieg des CO2-Preises im Energiesektor einher gehen. Damit wird ein Großteil der Kraftwerke marktgetrieben abgeschaltet werden. Wir fordern deshalb eine erneute und umgehende europarechtliche Überprüfung der Entschädigungszahlungen an die Kraftwerksbetreiber. Die dadurch freiwerdenden Mittel sind für die Absicherung der betroffenen Beschäftigten einzusetzen. Mit dem Urteil des BVerfG erübrigen sich weitere Entschädigungszahlungen für einen vorgezogenen Ausstieg, da das Gericht den das Klima zum Schutzgut erklärt hat.
Strukturmaßnahmen ambitioniert umsetzen
In den Bundesländern, in denen durch einen vorgezogenen Kohleausstieg (bis 2030) Strukturbrüche drohen, müssen diese abgefedert werden, indem die beschlossenen Strukturmaßnahmen ambitioniert umgesetzt werden. Die Menschen in den Kohleregionen verdienen eine ehrliche und zukunftsfähige Politik. Dazu gehört auch, dass unabhängig von einem beschleunigten Kohleausstieg die zugesagten Anpassungsprogramme für die derzeitig Beschäftigten umgesetzt werden. Ein deutlich früherer Kohleausstieg ist notwendig, aber die in der Kohlekommission vereinbarten Perspektiven für die Region und die Beschäftigten müssen verbindlich umgesetzt werden.