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„Die Küstenfischer mit ins Boot holen“
News | 14.10.2024
#Biodiversität und Naturschutz #Digitalisierung #Wasser und Meere

„Die Küstenfischer mit ins Boot holen“

Seegraswiese
© Philipp Kanstinger/WWF
Seegras braucht viel Licht für die Photosynthese und bevorzugt klare, lichtdurchflutete Flachwasserbereiche.

Die KI-Ideenwerkstatt für Umweltschutz des Bundesumweltministeriums unterstützt Pilotprojekte, die die Anwendung künstlicher Intelligenz entwickeln, um Natur und Umwelt zu schützen. In diesem Jahr wurde neben anderen das Vorhaben des WWF zur Erfassung von Seegraswiesen mittels KI ausgewählt. 

Seegraswiesen gelten als „Hotspots der Artenvielfalt“. Sie bieten zahlreichen Arten Lebensraum und sind wichtig für den Küsten- und Klimaschutz. Was wollen Sie mithilfe der Künstlichen Intelligenz herausfinden?

Seegraswiesen haben darüber noch weitere Funktionen, die auch im aktuellen Aktionsplan Natürlicher Klimaschutz (ANK) beschrieben werden, etwa die langfristige CO2-Speicherung. Diesen Aspekt greifen wir auch auf. Seegras als solches ist ja nicht vom Land aus sichtbar. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, Technologien oder Methoden einzusetzen, um erst einmal die Wasseroberfläche zu durchbrechen. Das ist für den Meeresschutz eine große Herausforderung. Seegraswiesen erbringen Ökosystemdienstleistungen, aber es gibt ganz wenige Informationen darüber, wo Seegras vorhanden ist. In den behördlichen Kartieranleitungen gibt es keine Lebensraumtypkartierung „Typ Seegraswiesen“. Wenn wir also zielgerichtet Seegras auch in anderen Projekten renaturieren oder stärken möchten, ist es notwendig zu wissen, wo diese Vegetationseinheit überhaupt vorkommt. Unser Ziel mithilfe der KI ist, mit ganz vielen Bildern, die entweder zielgerichtet oder zufällig entstehen, festzustellen, wo Seegras gefunden wurde. 

In den 1950er-Jahren gab es zum Beispiel im Gebiet des Greifswalder Boddens in Mecklenburg-Vorpommern eine sehr hohe Bedeckung mit Seegras. Bedingt durch die verschlechterten Umweltbedingungen ist es indirekt zu einer Reduktion der Lichtverhältnisse gekommen und damit einem generellen Absterben der Vegetation in tieferen Wassertiefen. Damals lag bei acht Metern ungefähr die Grenze, wo die Lichtintensität noch so hoch war, dass Seegras wachsen konnte. Heutzutage hat sich diese Grenze nach oben verschoben, sodass jetzt die maximale Wassertiefe für Seegras bei drei bis vier Metern liegt. Damit haben wir einen enormen Flächenverlust. Beim Beispiel Greifswalder Boddens ist über die Hälfte der Fläche nicht mehr bewachsen! 

Wie funktioniert es genau, die Wasseroberfläche zu durchbrechen beziehungsweise in die Unterwasserwelt abzutauchen, um das Seegras zu erfassen? 

Das versuchen wir mit einfacher Technik, sogenannter Konsumertechnik, also zum Beispiel mit Action-Cams, die nach unten gerichtet sind und bei Grundsicht dann die Information aufnehmen: „Haben wir eine Vegetation, haben wir keine Vegetation?“. Sind die Algorithmen oder der Trainingsdatensatz gut, dann kann man Seegras bestimmen.

Finn viehberg
Die Küstenfischer sind die Personen, die das Gebiet besonders gut kennen und zielgerichtet suchen können. Es geht darum, sie zu befähigen, Aufgaben auch im Sinne des Natur- und Umweltschutzes zu übernehmen.
Finn Viehberg, WWF
Leiter Ostseebüro

Tragen diese Action-Cams echte Taucher oder sind das Roboter?

Das kann jeder sein, der eine Action-Cam tragen kann. Im Moment planen wir, das vom Boot aus gezielt zu steuern. Im Idealfall wollen wir auch die Küstenfischer mit einbeziehen, dass sie hier mithelfen. Die Küstenfischer sind berufsbedingt sehr häufig auf dem Wasser, sie sind in flachen Bereichen unterwegs und sie sind die Personen, die das Gebiet besonders gut kennen und zielgerichtet suchen können. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es das Sea Ranger-Projekt, in dem Küstenfischer weitergebildet werden. Es geht darum, sie zu befähigen, Aufgaben auch im Sinne des Natur- und Umweltschutzes zu übernehmen. 

Um im Bild zu bleiben: Haben Sie die Fischer schon mit ins Boot geholt oder müssen Sie sie noch überzeugen? 

Nee, die Küstenfischer, die Sea Ranger sind, muss man nicht überzeugen. Die sehen, dass die Meeresumwelt sich in den Küstenbereichen nachhaltig verändert hat und dass es hier einer Unterstützung bedarf. Dass wir im Moment mit den Fischern noch nicht aktiv zusammenarbeiten, liegt daran, dass wir für die KI-Methode erst einmal einen Prototyp entwickeln möchten, den man ihnen dann „serienmäßig“ übergeben kann, sodass das Standardverfahren klar ist. In einem weiteren Schritt könnte man überlegen, daraus auch ein Citizen Science-Projekt zu machen, indem man zufällig entstandene, georeferenzierte Bilder übernimmt und auswertet, um noch schneller an diese Informationen zu kommen. 

Welche Unterstützung bekommen Sie vom Bundesumweltministerium? 

Es gibt im Rahmen der gemeinwohlorientierten Künstlichen Intelligenz-Initiative des Bundesumweltministeriums die Initiative der KI-Ideenwerkstatt, unter dem Schirm des Civic Coding. Darüber wird uns das Material bereitgestellt wird, es werden die KI-Experten mit der Problematik betraut, weil wir als Umweltschutzorganisation diese Expertise nicht per se mitbringen. 

Geisternetzbergung

Das Seegraswiesenprojekt ist erst angelaufen, mit Geisternetzen im Meer beschäftigt sich der WWF schon länger. Was ist ein Geisternetz und welche Schäden richtet es an? 

Mit den verlorengegangenen Fischereigeräten, den Geisternetzen, haben wir ein Thema gesetzt, das sich vor allem Plastikmüll im Meer widmet. Hier arbeiten wir eng mit den Ländern Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein zusammen, weil die Suche und die Bergung von Geisternetzen nach unserem Verständnis Aufgaben der Behörden sind, wenn der Fischer das eigene Gerät selbstständig nicht wiederfindet. Es soll eine Meldekette geschaffen und die Entsorgungsfrage geklärt werden. Generell ist das Ziel, Geisternetze zu vermeiden. In Pilotprojekten mit beiden Ländern haben wir erarbeitet, wo es hapert und was die Verwaltung aufgreifen muss. Der WWF ist ja kein Geisternetze-Bergungsunternehmen. Neben dem ökonomischen Schaden für die Fischer verursachen Geisternetze auch ökologischen. Zum Beispiel gibt es sogenannte fängige Geisternetze, das sind Netze, die unter Wasser noch aufgespannt sind und dann für marine Säuger große Gefahren bergen, weil sie sich darin verheddern und dann qualvoll ertrinken. Das gilt auch für Wasservögel wie Tauchenten oder Kormorane. Außerdem sind Geisternetze Plastikmüll.

Zum Aufspüren der Geisternetze nutzt der WWF digitale Technologien. Wie geht das vonstatten?

Wir setzen Sonargeräte ein, die mit Schallwellen schonend den Meeresuntergrund erkunden. Anomalien, die aussehen wie Fischernetze oder verlorengegangene Trossen, werden mit dieser Methode erkannt. Das erledigen wir im Moment händisch, aber künftig soll das die KI übernehmen. Im Gespräch mit den Kolleg*innen, die die Geisternetze fachlich begleiten, kam heraus, dass man in dem Sonar auch Seegraswiesen erkennen kann. Hier verknüpfen sich die Themen Seegras und Geisternetze, sodass wir künftig das Sonar auch dafür nutzen möchten festzustellen, wo Unterwasservegetation tatsächlich verortet ist. 

Welche Funktion hat die GhostNetZero-App in diesem Zusammenhang? 

Mit der GhostNetZero-App, ehemals WWF Ghostdiver App, können Geisternetze gemeldet und verifiziert werden. Sie lässt sich auf der ganzen Welt nutzen, weil es nicht nur ein deutsches Problem ist, sondern ein internationales. Die Frage ist, wie diese Daten langfristig zu dokumentieren und zu verwalten sind. Hierzu sind wir mit dem Umweltbundesamt im Gespräch. Der WWF lässt hier sein gesammeltes Wissen aus den vergangenen Jahrzehnten einfließen. 

Wenn Taucher*innen mit der App Geisternetze entdeckt, dokumentiert und verifiziert haben, wie geht es dann weiter? 

Die Taucher dürfen nach der Verifizierung die Geisternetze nicht selbstständig bergen. Das ist lebensgefährlich und muss professionell durchgeführt werden. Im Moment ist es so, dass die Bergungen projektbezogen sind. Das bedeutet, dass wir mit den Fischern und Berufstauchern an diese Punkte fahren und die Geisternetze bergen. Wenn geborgen wurde, ist es wichtig, dass egal, wer diese Bergung vornimmt, diese Information an die Datenbank übermittelt. Denn es wäre ineffizient und unökonomisch, wenn erledigte Fälle nicht bekannt sind. Ist das Netz schließlich geborgen, geht es darum, wie wird es entsorgt? 

Wir versuchen hier, die rechtlichen Rahmenbedingungen zu verändern, weil ein aktives Suchen nach Müll rechtlich im Moment nicht so festgeschrieben ist, wie wir das möchten. Es ist eine öffentliche Aufgabe und die Entsorgung gehört dazu. Die Netze sollen nicht in einer Landdeponie verschwinden, sondern im Idealfall recycelt werden. Hier gilt es, auch auf die Hersteller einzuwirken, dass die Netze recycelfähig produziert werden. Mithilfe der KI sollen künftig sowohl Geisternetze als auch Seegras punktgenau geortet werden. Hier sehen wir Felder, wo man die KI sinnvoll für den Natur- und Umweltschutz einsetzen kann. Gleichzeitig ist es uns auch ein Anliegen, eine erklärbare KI ressourcensparend zu nutzen. Sonst wäre das ein Bärendienst an der Natur und für die Gesellschaft. 

[Interview: Marion Busch]

Der Interviewpartner

Dr. Finn Viehberg leitet seit 2021 das Ostseebüro des WWF Deutschland. An der Uni Greifswald forscht er zu den Effekten von Klimaveränderungen und menschlichen Einflüssen auf die Lebensgemeinschaften in Gewässern und die Schadstoffbelastung der Sedimente.

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