100 Tage EU-Kommission – Der Green Deal steht unter Druck

Die ersten 100 Tage einer neuen EU-Kommission gelten als entscheidend, um politische Prioritäten zu setzen und den Kurs für die kommenden Jahre festzulegen. Ein Grund genauer hinzusehen, wie es um den Umwelt- und Klimaschutz steht und eine Bilanz zu ziehen.
Fünf Jahre lang stand Klimaschutz mit dem European Green Deal im Zentrum der europäischen Agenda. Nach der Europawahl im Juni 2024 und den politischen Verschiebungen wurde zunehmend fraglich, ob die neue Kommission an ihrem bisherigen Kurs festhält oder aufgrund der neuen politischen Gegebenheiten und starkem Lobbydruck eine Neuausrichtung vornehmen würde.
Bereits in den ersten Wochen wurde deutlich: Die neue Kommission bewegt sich in einem Spannungsfeld. Das Erstarken reaktionärer Kräfte, schwächelnde Volkswirtschaften und geopolitische Umbrüche setzen die ambitionierte Klimapolitik der EU zunehmend unter Druck. Wird die Kommission ihr bislang größtes Transformationsprojekt fortführen?
Clean Industrial Deal
Die Verabschiedung des Clean Industrial Deal ist grundsätzlich ein positives Signal für die europäische Klimapolitik. Er gilt als Fortsetzung des Green Deal und konzentriert sich auf die Förderung klimafreundlicher Technologien, nachhaltiger Produktionsprozesse und die Stärkung der Kreislaufwirtschaft. Zudem enthält er Nachhaltigkeits- und Local-Content-Kriterien in der öffentlichen Beschaffung. Besonders wichtig ist das Bekenntnis zur Klimaneutralität bis 2050. Trotz dieser positiven Aspekte gibt es erhebliche Schwächen:
- Der CID wäre eine Gelegenheit gewesen, die klimapolitischen Zielsetzungen der EU noch eindeutiger zu verankern. Stattdessen bleibt die Verbindung indirekt. Das lässt Interpretationsspielraum. Besonders kritisch ist, dass das 2040-Ziel für eine 90-prozentige Emissionsreduktion nicht fest verankert wurde. Ohne eine klare Verpflichtung droht aber der Verlust von Verbindlichkeit.
- Die Kommission stellt Klimaschutz zunehmend in den Kontext von Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit: „Eine Strategie für Wettbewerbsfähigkeit und Dekarbonisierung ist auch ein Sicherheitsimperativ“ – ein durchaus nachvollziehbares Argument, das jedoch nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass der Klimaschutz ein eigenständiges Ziel bleiben muss.
- Die Kommission betont das Prinzip der technologischen Neutralität („Technologieoffenheit“) Dadurch erhalten auch Technologien wie CCS und Atomkraft eine Förderung, während bewährte emissionsfreie Technologien nicht priorisiert werden. Dies könnte notwendige Investitionen in Erneuerbare Energien und grüne Infrastruktur bremsen.
- Die Kommission liefert keine Antwort auf die Finanzierungslücke zwischen dem Auslaufen der Aufbau- und Resilienzfazilität (Resilience and Recovery Facility, RRF) 2026 und dem neuen Mehrjähirgen Finanzrahmen (MFF) 2028. Damit bleibt unklar, wie zentrale Klimaschutz- und Transformationsprojekte in diesem Zeitraum finanziert werden sollen. Das kann zu Investitionsunsicherheit führen.
Omnibus-Pakete: Deregulierung statt Entlastung
Einen deutlich problematischeren Kurs schlägt die Kommission mit ihren Omnibus-Paketen ein. Deren Ziel ist es, Regulierungen für Unternehmen zu lockern – doch statt gezielter Verbesserungen drohen erhebliche Rückschritte bei zentralen Nachhaltigkeitsvorgaben.
Nachhaltigkeitsberichterstattung (CSRD) massiv geschwächt
Die Nachhaltigkeitsberichterstattung ist ein essenzielles Instrument für Transparenz und Unternehmensverantwortung. Doch mit der geplanten Reform werden:
- 80 % der Unternehmen aus der Berichtspflicht entlassen.
- Die Schwelle für Berichtspflichten von 250 auf 1.000 Mitarbeitende angehoben.
- Unternehmen, die 2026 oder 2027 mit der Berichterstattung beginnen sollten, auf 2028 verschoben.
- Sektorspezifische Standards gestrichen und Kriterien abgeschwächt.
Das bedeutet, dass tausende Unternehmen künftig keine verpflichtenden Nachhaltigkeitsberichte mehr veröffentlichen müssen. Planungssicherheit und eine verlässliche Regulierung werden dadurch massiv untergraben.
Lieferkettengesetz (CSDDD): Verantwortung wird minimiert
Auch das EU-Lieferkettengesetz wird durch das Omnibus-Paket abgeschwächt. Die Änderungen beinhalten:
- Sorgfaltspflichten gelten nur noch für direkte Zulieferer (Tier 1). Das ist besonders problematisch, da viele Verstöße gegen Menschenrechte und Umweltauflagen tiefer in den Lieferketten geschehen.
- Prüfungen nur noch alle fünf Jahre (statt jährlich).
- Keine zivilrechtliche Haftung für Unternehmen mehr vorgesehen.
- Strafen sind nicht mehr an den Umsatz gekoppelt.
Das bedeutet, dass Unternehmen kaum noch Konsequenzen für Verstöße gegen Umwelt- und Sozialstandards fürchten müssen.
Taxonomie-Verordnung geschwächt
Die Taxonomie-Verordnung war eines der zentralen Instrumente des Green Deal, um nachhaltige Investitionen zu fördern. Doch mit dem Omnibus-Paket werden:
- Die Berichtspflichten nur noch auf die größten Unternehmen beschränkt.
- Die Anzahl der anzugebenden Nachhaltigkeitsdatenpunkte um bis zu 89 % reduziert.
- Das „Do no significant harm“-Prinzip stark vereinfacht.
Dies wird dazu führen, dass Unternehmen weniger transparent über ihre Klima- und Umweltbilanz berichten müssen und nachhaltige Investitionen schwerer zu identifizieren sind.
Abschwächung der CO₂-Flottengrenzwerte: Gefahr für die Verkehrswende
Ein weiteres alarmierendes Signal aus der EU-Kommission ist die geplante Abschwächung der CO₂-Flottengrenzwerte für Pkw. Die Kommission hat kürzlich einen Aktionsplan für den Automobilsektor veröffentlicht, der unter anderem eine Streckung der Emissionsvorgaben vorsieht. Dies soll der Industrie mehr Spielraum geben, indem Herstellern mehr Zeit eingeräumt wird, die CO₂-Grenzwerte schrittweise zu erreichen. Kritiker warnen jedoch, dass so der Druck auf die Automobilbranche verringert werde, frühzeitig in emissionsfreie Technologien zu investieren. Dadurch könnten bis zu 50 Millionen Tonnen zusätzlicher CO₂-Ausstoß entstehen – mehr als die gesamten jährlichen Emissionen von Schweden oder Portugal. Umweltverbände wie die Deutsche Umwelthilfe warnen vor einem "Generalangriff" auf das Verbrenner-Aus ab 2035 und befürchten, dass hier ein Präzedenzfall entstehen könnte, um weitere Klimavorgaben für den Verkehrssektor zu lockern oder hinauszuzögern.
Fehlendes 2040-Klimaziel: Es braucht einen klaren Dekarbonisierungspfad
Obwohl die Kommission angekündigt hatte, einen Gesetzesvorschlag zur Änderung des Europäischen Klimagesetzes mit einem Zwischenziel von 90 % Emissionsreduktion bis 2040 ("2040-Klimaziel") vorzulegen, ist dies bislang nicht geschehen. Ein verbindliches Klimaziel für 2040 ist jedoch essenziell, um verlässliche Rahmenbedingung für die Klimapolitik der kommenden Legislaturperiode zu schaffen. Besonders kritisch ist, dass dieser Vorschlag ursprünglich zeitgleich mit dem Clean Industrial Deal angekündigt wurde. Gerade die Verknüpfung mit dem CID wäre entscheidend gewesen, um der europäischen Industrie einen klaren Dekarbonisierungspfad vorzugeben und eine langfristige Strategie für die kommenden Jahre festzulegen.
Hinzu kommt: Die EU hat die Frist zur Einreichung der aktualisierten Nationally Determined Contribution (NDC) im Rahmen des Pariser Klimaabkommens am 10. Februar 2025 bereits verpasst. Da das NDC für 2035 aus dem 2040-Ziel abgeleitet werden soll, ist ein baldiger Gesetzesvorschlag nicht nur wünschenswert, sondern absolut notwendig. Das Verzögern dieses Prozesses setzt Europa dem Risiko aus, hinter seinen internationalen Verpflichtungen zurückzufallen. Die EU riskiert nicht nur ihre internationale Glaubwürdigkeit im Klimaschutz, sondern schafft auch Unsicherheiten für Investoren und Unternehmen, die klare Leitlinien für ihre Dekarbonisierungsstrategien benötigen.
Ergebnis und Erwartungen
Das bisherige Handeln der Kommission zeichnet also insgesamt ein ambivalentes Bild: Während mit dem Clean Industrial Deal (CID) ein bedeutender Schritt für die industrielle Dekarbonisierung gemacht wurde, indem gezielt klimafreundliche Technologien, nachhaltige Produktionsprozesse und die Kreislaufwirtschaft gestärkt werden, gibt es zugleich besorgniserregende Rückschritte. Besonders das Omnibus-Paket droht zentrale Errungenschaften des Green Deal auszuhöhlen. Zudem bleiben drängende Fragen zur Finanzierung der Transformation ungeklärt – und das Fehlen klarer Ziele für 2040 (zu Emissionsreduktion, dem Ausbau Erneuerbarer Energien und Energieeffizienz) setzt ein fatales Signal für die langfristige Glaubwürdigkeit der EU-Klimapolitik.
Was sind nach dieser Bilanz der ersten 100 Tage im Amt Erwartungen an die EU-Kommission? Judith Hermann, Referentin für EU-Klima- und Energiepolitik beim DNR, kommentiert: "Die ersten 100 Tage der EU-Kommission geben einen Vorgeschmack auf die Herausforderungen, mit denen wir in der aktuellen EU-Legislatur rechnen müssen. Wir fordern jetzt von der Kommission, dass sie alles tut, um den Europäischen Green Deal zu schützen und es keine Aufweichung bereits beschlossener Gesetze gibt. Nur wenn der Green Deal erhalten und lückenlos umgesetzt wird, kann auch der Clean Industrial Deal zu erfolgreichem Klimaschutz beitragen. Besonders wichtig ist, dass die Kommission umgehend einen Gesetzesvorschlag für das 2040-Klimaziel von -90% vorlegt und zentrale Umsetzungsfragen des Clean Industrial Deals und seiner Finanzierung klärt."
Zum Weiterlesen:
DNR: Kommissionsprogramm 2025: Potenziale mit Schlagseite
Clean Industrial Deal
DNR: Clean Industrial Deal: Wichtiges Signal mit deutlichen Lücken
DNR: Forderungspapier zur europäischen Industriepolitik
Germanwatch: Clean Industrial Deal: Die grundsätzliche Richtung stimmt, lässt aber viele Umsetzungsfragen offen
EEB: The Clean Industrial Deal hides dirty concessions
Cefic: 400 Business Leaders for Clean Industrial Deal
Omnibus-Pakete
WWF: Omnibus: WWF kritisiert Deregulierungspläne der EU-Kommission
Germanwatch: Omnibus: Klare Bedingungen statt regulatorischen Rückschritten
ClientEarth: Anwälte kritisieren Omnibus-Vorschlag
CAN Europe: Clean Industrial Deal: Climate and decarbonisation ambitions not matched by concrete proposals
EEB: Omnibus: Ein trojanisches Pferd für aggressive Deregulierung, sagen NGOs
CEO: Deregulation Watch: EU-Kommission auf dem Weg der Abschwächung
DNR: EU-Wettbewerbskompass: Deregulierung statt robuster Klimaschutz
Abschwächung der CO₂-Flottengrenzwerte
Europäische Kommission: Aktionsplan für Europas Automobil-Industrie
2040-Klimaziel
DNR: Verbändeposition zum EU-Klimaziel für 2040 und dem begleitenden Klimaschutzrahmen
Germanwatch: Neue Klimaziele lassen auf sich warten