Alles, was Recht ist
Neue Vertragsverletzungsverfahren vom Juli, ernüchternde Bilanz zur Durchsetzung von EU-(Umwelt)Recht und Urteile des EuGH gegen Portugal und Irland zu Luftqualität und Naturschutz. Deutschland unterstützte Irland mit Streithilfeschriftsatz.
Verstöße gegen Berichtspflichten, Abfallstandards und Energierecht
Die Umsetzung des EU-Umweltrechts ist weiterhin eine Baustelle. In Sachen Umwelt, Fischerei und Energie ist in Deutschland im Juli kein neues Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet oder ein Verfahren auf eine neue Stufe gehoben worden, wie der Zusammenstellung vom 14. Juli zu entnehmen ist.
Österreich hat ein Aufforderungsschreiben bekommen, da im Nationalpark Hohe Tauern Salzburg die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt ist. Kroatien und Portugal haben noch keine maritimen Raumordnungspläne bei der EU-Kommission eingereicht.
Tschechien, die Slowakei und Kroatien müssen bei der Luftqualität nachbessern. In der Slowakei hapert es bei der Umsetzung der Abfallrahmenrichtlinie: 67 Deponien scheinen nach wie vor nicht so bewirtschaftet zu werden, dass weder Umwelt noch Gesundheit gefährdet sind. Bulgarien wiederum fordert die EU-Kommission auf, das Verursacherprinzip bei der Berechnung der Abfallbewirtschaftungsgebühr anzuwenden (ebenfalls eine Abfallrahmenrichtlinienverstoß).
Malta muss bei der Gebäudeeffizienzrichtlinie nachbessern, Tschechien hat die Erneuerbare-Energien-Richtlinie nicht vollständig in nationales Recht umgesetzt. Kroatien, Rumänien und Ungarn haben noch keinen Bericht über die für 2020 anvisierten Ziele bei Erneuerbaren und Energieeffizienz abgeliefert. Schweden muss bei der Euratom-Richtlinie und den Sicherheitsnormen nachbessern.
Abgesehen von Verstößen gegen Umweltrecht im eigentlichen Sinne liegt auch bei den Menschenrechten und dem Recht auf Verbandsklagen einiges im Argen. So haben Belgien, Ungarn, Italien, Estland, Österreich und Schweden die EU-Vorschriften über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand während des Freiheitsentzugs noch nicht ordnungsgemäß in nationales Recht übertragen. Estland, Irland, Zypern, Lettland, Luxemburg und Polen haben Post von der EU-Kommission bekommen, weil sie die Vorschriften über Verbandsklagen noch nicht umgesetzt haben (Richtlinie EU 2020/1828).
Jahresbericht Recht: weniger Verfahren, lange Dauer
Die EU-Kommission hat als Hüterin der Verträge die Aufgabe, die Umsetzung des EU-Rechts zu kontrollieren und im Zweifel durchzusetzen. Dem entsprechenden Jahresbericht 2022 ist zu entnehmen, dass die Kommission 279 neue EU-Pilot-Verfahren eingeleitet hat. Das ist eine Art Vorstufe vor einem Vertragsverletzungsverfahren. In 74 Prozent dieser EU-Pilotverfahren sei eine Lösung mit den betroffenen Mitgliedstaaten gefunden worden. Dies hatte zur Folge, dass es 2022 mit 590 sehr viel weniger neue Vertragsverletzungsverfahren gab als 2021 (847) oder 2020 (903). Allerdings sind zum Jahresende insgesamt noch 1991 anhängig gewesen, mehr als in allen Vorjahren seit 2018. Kein Wunder, dauert doch die durchschnittliche Bearbeitungszeit von solchen Verfahren 112 Wochen, wie dem Bericht ebenfalls zu entnehmen ist. Allein im Umweltbereich waren am Ende des Jahres 425 Verfahren noch nicht befriedigend gelöst.
Die EU-Kommission erreichten im Jahr 2022 außerdem 3.615 neue potenzielle Beschwerden, wovon die meisten angenommen wurden. Anhängig am Ende des Jahres waren noch 482 Beschwerden im Umweltbereich; hinzu kommen 426 behandelte Beschwerden und 366 neue (Bezugszeitraum 2018-2022). Einen ausführlicheren Überblick über Verstöße gegen Umweltrecht gibt es hier.
Deutschland: 17 neue Verfahren, 71 anhängig
Gegen Deutschland wurden 2022 insgesamt 17 neue Verfahren eröffnet, wobei der Löwenanteil (14) auf Fristüberschreitungen bei der Umsetzung entfällt. Insgesamt sind 71 Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland anhängig, 3 davon sogar nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes (letzte Stufe des Verfahrens).
EuGH-Urteile gegen Portugal (Luftqualität) und Irland (Naturschutz)
Die EU-Kommission hatte schon im November 2021 Klage gegen Portugal eingereicht. Ende Juni erging nun das Urteil des EuGH gegen den über zehn Jahre andauernden Verstoß gegen Luftqualitätsvorschriften der EU: der Jahresgrenzwert für Stickstoffdioxid (NO2) war „systematisch und andauernd überschritten“. Deshalb muss Portugal „geeignete Maßnahmen“ treffen.
Auch Irland hat gegen die Umsetzung von EU-Recht verstoßen, urteilte der EuGH. Die Regierung habe es versäumt, das irische Netz geschützter Lebensräume zu vervollständigen und detaillierte Erhaltungsziele im Rahmen der FFH-Richtlinie festzulegen. Für 140 der 423 Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung seien keine konkreten gebietsspezifischen Erhaltungsziele festgelegt worden. Die getroffenen Erhaltungsmaßnahmen wiederum seien aber nicht „systematisch und anhaltend“ unzureichend, wie die EU-Kommission dargestellt hatte.
Interessanterweise wurde Irland durch Deutschland unterstützt, gegen das ein eigenes Vertragsverletzungsverfahren anhängig ist. In einem sogenannten Streithilfeschriftsatz wandte sich die Bundesrepublik gegen die Auslegung, dass Erhaltungsmaßnahmen für jede Art und jeden Lebensraumtyp im betreffenden Gebieten getroffen werden müssten; dies sei „formalistisch“. Dagegen verwahrte sich die EU-Kommission, räumte aber ein, dass eine Erhaltungsmaßnahme durchaus auf mehrere Lebensraumtypen und Arten bezogen sein könne, wenn deren ökologischen Erfordernisse vergleichbar seien. Erhaltungsmaßnahmen müssten dennoch auf spezifische Erhaltungsziele gestützt sein. Deutschland argumentierte, dass sich ein Verstoß nicht schon allein daraus ergeben könne, dass die Erhaltungsziele nicht vor den Erhaltungsmaßnahmen festgelegt worden seien. Entscheidend sei, ob die Erhaltungsmaßnahmen effektiv seien, es komme nicht darauf an, wann sie festgelegt worden seien. Die Kommission wiederum machte geltend, dass es reiner Zufall sei, wenn Erhaltungsmaßnahmen, die vor der Festlegung der Erhaltungsziele festgelegt worden sein, Letzteren entsprächen. Es stünde vielmehr zu befürchten, dass im Nachhinein festgelegte Erhaltungsziele ihre Funktion der Festlegung des potenziellen Beitrags eines Gebiets zum Netz „Natura 2000“ nicht erfüllten und nicht auf das übergeordnete Ziel, einen günstigen Erhaltungszustand zu wahren oder wiederherzustellen, ausgerichtet sind. Dieses Problem werde verschärft, wenn alle Maßnahmen vor der Festlegung der Erhaltungsziele festgelegt würden, argumentierte die EU-Kommission. [jg]
EU-Kommission:
- Vertragsverletzungsverfahren im Juli: wichtigste Beschlüsse
- Durchsetzung des EU-Rechts mit Jahresbericht 2022
ENDS (kostenpflichtig):
Umweltrecht & Umweltkriminalität
Ein WWF-Bericht über Umweltkriminalität belegt, dass Verbrechen mit und an wildlebenden Tieren und Pflanzen verheerende Auswirkungen auf gefährdete europäische Arten haben und ein wachsendes Risiko für die wirtschaftliche Entwicklung und die Sicherheit unserer Gesellschaft darstellen. Doch die meisten Fälle blieben ungestraft oder unentdeckt. Es fehle an Überwachung und politischer Prioritätensetzung, um diesem Phänomen entgegenzuwirken.
Dem Bericht zufolge waren die illegale Tötung von Wildtieren, die Verwendung von Giftködern oder verbotenen Jagdmethoden und -ausrüstungen sowie der illegale Handel mit Wildtieren die häufigsten Straftaten in elf europäischen Ländern. Die Überarbeitung der EU-Richtlinie über Umweltkriminalität, über die derzeit verhandelt wird, biete eine einzigartige Gelegenheit, endemische und bedrohte Wildtierarten vor diesen verheerenden kriminellen Aktivitäten zu schützen, so der WWF Zentral- und Osteuropa.