Verbände und Wissenschaft: Biodiversitätskrise endlich angehen!
Blauer Brief für Brüssel: Nun schon zum dritten Mal hat die EU-Kommission die Veröffentlichung ihrer EU-Biodiversitätsstrategie 2030 - ebenso wie die Farm-to-Fork-Ernährungsstrategie - verschoben (EU-News 19.03.2020). Ein Bündnis von Nichtregierungsorganisationen unter dem Dach des Europäischen Habitat Forums hat die Behörde aufgefordert, beide Strategien dringend noch im Mai zu veröffentlichen. Ebenso dringlich sei es, als EU die Biodiversitäts- und Klimakrise gerade auch bei der Bewältigung der Covid-19-Pandemie wirkungsvoll anzugehen.
Der Schutz und die Wiederherstellung von Ökosystemen müsse bei dem Wandel Europas zu einer gerechten und nachhaltigen Wirtschaft im Einklang mit den Zielen des Europäischen Green Deals eine zentrale Rolle spielen. Das fordern unter anderem das Europäische Umweltbüro (EEB), Client Earth, die Umweltstiftung WWF, BirdLife, die Europarc Foundation und andere europäische Verbände. Sowohl der dringend benötigte Schutz und die Wiederherstellung der Natur als auch der Übergang zu nachhaltigen Landwirtschafts- und Ernährungssystemen müssten zu Leitprinzipien des Erholungsprozesses nach der Corona-Krise werden. Dies erwarteten auch die europäischen Bürger*innen. Ursprünglich hätten beide Strategien erst im März, dann am 29. April erscheinen sollen. Das tatsächliche Veröffentlichungsdatum steht noch nicht fest.
In einem Gastbeitrag auf der Seite des Weltbiodiversitätsrates (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services, IPBES) vom 27. April haben die Professor*innen Josef Settele, Sandra Díaz, Eduardo Brondizio und Dr. Peter Daszak ebenfalls betont, dass die Welt einen "transformativen Wandel" braucht. Spätestens seit der Veröffentlichung des letzten IPBES-Berichtes, dass rund eine Million Arten vom Aussterben bedroht sind, dass "eine grundlegende, systemweite Reorganisation über technologische, wirtschaftliche und soziale Faktoren hinweg, einschließlich Paradigmen, Zielen und Werten" notwendig sei. So entmutigend und kostspielig dies auch klingen möge – "es verblasst im Vergleich zu dem Preis, den wir bereits zahlen". Die Reaktion auf die COVID-19-Krise verlange, das Business-as-usual zu beenden. "Wir können gestärkt und widerstandsfähiger denn je aus der gegenwärtigen Krise hervorgehen. Dazu müssen wir uns aber für Politiken und Maßnahmen entscheiden, die die Natur schützen – damit die Natur uns helfen kann, uns zu schützen," schreiben die IPBES-Expert*innen. Umweltschutzgesetze müssten eingehalten und verstärkt, auf allen Ebenen ein "One-Health-Ansatz" verfolgt sowie die Gesundheitssysteme angemessen finanziert werden. "COVID-19-Konjunkturpakete müssen Leben retten, Lebensgrundlagen schützen und die Natur bewahren, um das Risiko künftiger Pandemien zu verringern," so die Autor*innen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat laut dpa-Europaticker während des Petersberger Klimadialogs auf den Zusammenhang zwischen schrumpfenden Lebensräumen, dem Verlust der Artenvielfalt und dem Anstieg von durch Tiere übertragene Infektionskrankheiten hingewiesen. International müsse man beim Schutz der Biodiversität und der Wälder vorankommen. Bis zur ebenfalls verschobenen Vertragsstaatenkonferenz zum Übereinkommen für biologische Vielfalt (COP15 CBD) brauche man einen neuen globalen Rahmen.
Laut Recherchen des Online-Magazins Die Flugbegleiter wurden auf Betreiben des Bundeslandwirtschaftsministeriums kürzlich zahlreiche Passagen aus einem Bericht der Bundesregierung an den Umweltausschuss im Bundestag gestrichen, die genau auf diesen Zusammenhang hinwiesen. Nämlich, dass der Ausbruch von Pandemien mit der Umwelt- und Naturzerstörung einhergehen könne, da Lebensräume zerstückelt würden und damit unnatürliche Nähe zwischen wildlebenden Arten und menschlichen Wohnsiedlungen hergestellt würde. Akribisch hat Autor Thomas Krumenacker (Riffreporter) Textpassagen aus ursprünglichem und vorgelegtem Dokument verglichen. Für das Landwirtschaftsministerium scheint die inzwischen in der Wissenschaft weit verbreitete Erkenntnis lediglich eine "Spekulation" zu sein.
Derweil verweist der NABU mit Blick auf eine neue Meta-Studie zum weltweiten Rückgang der Insekten darauf, dass dieser Rückgang in Europa und Deutschland besonders stark sei. "Wir brauchen deshalb endlich eine wirksame Gesetzgebung zum Schutz der Insekten, um die Auswirkungen von Landnutzung, Zerstörung von Lebensräumen und Flächenverbrauch zu begrenzen. Die Bundesregierung darf hier nicht länger auf Zeit spielen, sondern muss endlich liefern", kommentierte NABU-Präsident Jörg-Andreas Krüger die Studienergebnisse. [jg]
Offener Brief auf der Seite des (EEB)
IPBES-Beitrag von Settele, Díaz, Brondizio, Daszak
dpa/www.eu-info.de/Statement Angela Merkel
Artikel Thomas Krumenacker/Riffreporter
NABU-Pressemitteilung und Original-Artikel zur Meta-Studie sowie Pressemitteilung des iDiv (Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung)