30 Prozent der Landes- und Meeresflächen unter Schutz: die neue Biodiversitätsstrategie der EU
"Mehr Raum für Natur in unserem Leben" - so ist die Mitteilung der EU-Kommission untertitelt, in der sie "ehrgeizige EU-Maßnahmen und Verpflichtungen" vorschlägt, um den weltweiten Verlust an biologischer Vielfalt zu stoppen. Die EU-Biodiversitätsstrategie für 2030 ist lang erwartet, vielfach verschoben und extrem wichtig, um die Artenvielfalt zu sichern. Doch was steckt drin?
- Aus verschiedenen Quellen (darunter EU-Gelder sowie nationale und private Gelder) werden Mittel in Höhe von jährlich 20 Milliarden Euro für die biologische Vielfalt bereitgestellt.
- "Zum Wohle unserer Umwelt und unserer Wirtschaft und um die Erholung der EU von der COVID-19-Krise zu unterstützen" sollen mindestens 30 Prozent der Landfläche und 30 Prozent der Meere in der EU geschützt werden, davon 10 Prozent der EU-Landflächen und 10 Prozent der EU-Meeresgebiete mit strengen Schutzvorgaben. Hierzu sollen alle verbleibenden Primär- und Urwälder der EU bestimmt, erfasst, überwacht und streng geschützt werden. Hinzu kommt die Integration ökologischer Korridore als Teil eines echten transeuropäischen Naturschutznetzes.
- Teil der Mitteilung ist auch ein EU-Plan zur Wiederherstellung der Natur. Da die Renaturierung in den Mitgliedstaaten "erhebliche Umsetzungs- und Regulierungslücken" aufweist, will die EU-Kommission 2021 rechtsverbindliche EU-Ziele zur Wiederherstellung der Natur vorlegen. Meeresökosysteme (nachhaltige Nutzung, Nulltoleranz gegenüber illegalen Praktiken, Aktionsplan zur Erhaltung der Fischereiressourcen und zum Schutz der Meeresökosysteme 2021) und Süßwasserökosysteme (bis 2030 mindestens 25.000 Flusskilometer wieder in frei fließende Flüsse umwandeln; gemäß der Wasserrahmenrichtlinie bis spätestens 2027 einen guten Zustand oder ein gutes Potenzial aller Oberflächengewässer und einen guten Zustand des gesamten Grundwassers erreichen) sollen ebenfalls einbezogen werden.
- Der besorgniserregende Rückgang bei Feldvögeln und Insekten "muss umgekehrt werden". Verknüpft mit der ebenfalls heute vorgelegten Strategie "vom Hof auf den Tisch" soll die Verwendung und das Risiko chemischer Pestizide sowie der Einsatz hochriskanter Pestizide jeweils bis 2030 um 50 Prozent verringert werden. Mindestens 10 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche sollen wieder mit Landschaftselementen mit großer Vielfalt gestaltet, 25 Prozent der landwirtschaften Fläche ökologisch bewirtschaftet werden.
- Bodenökosysteme liegen der EU-Kommission ebenfalls am Herzen: Die Anstrengungen zum Schutz der Bodenfruchtbarkeit, zur Verringerung der Bodenerosion und zur Erhöhung der organischen Substanz des Bodens sind zu verstärken. 2021 will die EU-Kommission ihre thematische Strategie für den Bodenschutz der EU aktualisieren; auch der Null-Schadstoff-Aktionsplan für Luft, Wasser und Boden, ist für 2021 geplant. Die Bodenversiegelung und die Sanierung kontaminierter Brachflächen sollen in der künftigen Strategie für eine nachhaltige bauliche Umwelt behandelt werden.
- Die EU soll die Quantität, Qualität und Widerstandsfähigkeit ihrer Wälder verbessern: Die Kommission will 2021 eine spezielle EU-Forststrategie vorschlagen sowie neue Nachhaltigkeitskriterien für die energetische Nutzung forstwirtschaftlicher Biomasse ausarbeiten. Bis 2030 sollen in der EU mindestens 3 Milliarden neue Bäume gepflanzt werden.
- Mehr Grün in der Stadt: Die Kommission fordert europäische Städte ab 20.000 Einwohnern auf, bis Ende 2021 ehrgeizige Pläne für die Begrünung der Städte auszuarbeiten, 2021 soll enie entsprechende EU-Plattform eingerichtet werden.
Darüber hinaus enthält die Mitteilung einige Details zur Verringerung der Umweltverschmutzung (minus 20 Prozent des Einsatzes von Düngemitteln, Bewertung von Pestiziden verbessern), Fortschritte bei der Sanierung kontaminierter Böden und im Kampf gegen invasive Arten.
Das Europäische Parlament und der EU-Ministerrat müssen die Strategie und ihre Verpflichtungen nun beschließen. "Alle Bürger und Interessenträger sind dazu eingeladen, sich an einer breiten öffentlichen Debatte zu beteiligen", schreibt die EU-Kommission.
Reaktionen
BirdLife nannte die gleichzeitige Freigabe der Farm-to-Fork- und Biodiversitätsstrategie "an sich bemerkenswert", da intensive Landwirtschaft und Fischerei die größten Treiber für den Verlust der biologischen Vielfalt sind. Damit erkenne die EU an, dass destruktive Lebensmittelsysteme in Europa nicht mehr die Norm sein dürfen und ziehe wichtige Lehren aus der COVID-19-Pandemie: "Ein gesunder Planet ist eine Voraussetzung für eine gesunde menschliche Gesellschaft, die Wissenschaft muss politische Entscheidungen leiten, und einer Krise muss entgegengewirkt werden, bevor sie außer Kontrolle gerät."
Das Europäische Umweltbüro (European Environmental Bureau, EEB) begrüßte den "Beschleuniger für Biodiversitätsschutz". Natur- und Wasserschutzexperte Sergiy Moroz sagte: "Es ist gut zu sehen, dass die Europäische Kommission auf die Wissenschaft gehört hat, als sie diese wichtigen Verpflichtungen vorschlug. Jetzt ist es an den Mitgliedstaaten, sie zu unterstützen, und alle vorhandene Kraft aufzuwenden, um die Biodiversitätskrise, mit der wir konfrontiert sind, anzugehen."
Die Meeresschutzorganisation Seas At Risk kommentierte, dass die Biodiversitätsziele "ein guter Anfang für den Schutz und die Wiederherstellung der Meeresökosysteme" seien. Allerdings spielten Mitgliedstaaten hier eine wichtige Rolle, da sie die Ziele in konkrete Schutzmaßnahmen in ihren nationalen Gewässern umwandeln müssen. Wenn diese wirksam sein sollen, müssten menschliche Aktivitäten reguliert und die zerstörerischsten, wie die Bodenschleppnetzfischerei oder die Mineralgewinnung, verboten werden.
Der Umweltdachverband Deutscher Naturschutzring nannte die konkreten Zielsetzungen ein "wichtiges Signal", hätte sich aber ein deutlicheres Eintreten für die Wasserrahmenrichtlinie gewünscht und mahnte, dass die Ziele in verbindliche Rechtsvorschriften übersetzt und vor allem in die Gemeinsame Agrarpolitik integriert werden müssten. "Der Verlust der Artenvielfalt und das Insektensterben, die fortschreitende Klimakrise sowie die gegenwärtige Corona-Pandemie erfordern eine entschlossene Neuausrichtung europäischer Politik. Der Europäische Green Deal und seine Strategien sind daher zentral für eine nachhaltige Zukunft und für die ‚Green Recovery‘ der EU aus der Corona-Krise", kommentierte DNR-Geschäftsführer Florian Schöne.
Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) nannte die EU-Biodiversitätsstrategie einen "wichtigen Meilenstein". Sie umfasse konkrete Ziele für mehr Wildnis in Europa, die Stärkung des europäischen Schutzgebietsnetzwerks Natura 2000 und des naturnahen Biotopverbunds durch eine europaweite Rettungsinitiative. In vielen Punkten bleibe die Strategie jedoch unkonkret, vor allem müssten die Mitgliedstaaten sie mit Leben füllen und kritische Politikbereiche wie Verkehr, Landwirtschaft, Energie- und Ressourcenverbrauch der Wirtschaft seien gefragt. "Die Treiber des Verlustes an Arten, Lebensräumen und genetischer Vielfalt wurden in der heute vorgelegten Strategie nur unzureichend adressiert", so der BUND.
Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) sieht "neben Licht aber auch Schatten". Vor allem fordert sie von der Bundesregierung einen Nationalen Aktionsplan, der die bewährte Strategie zur Biologischen Vielfalt bis 2021 ergänzt. Den "warmen Worten" der EU-Kommission in ihrer EU-Biodiversitätsstrategie müssten beispielsweise bei der Festlegung von Fangquoten in diesem Jahr auch Taten folgen. Besonders begrüßte die DUH den Plan zur Wiederherstellung der Natur. Dieser werde in der kommenden UN-Dekade 2021–2030 zur Restaurierung von Ökosystemen "erheblich an Bedeutung gewinnen".
Der Naturschutzbund NABU begrüßte, dass die EU-Biodiversitätsstrategie die für den Natur- und Klimaschutz dringende Renaturierung von Mooren, Grünlandflächen, naturnahen Wäldern und Meeresgebieten verbindlich macht. Aus Sicht des NABU sollten auf mindestens 15 Prozent der Landes- oder Seefläche die bestehenden Schäden an Natur und Landschaft durch Renaturierungen geheilt werden. Die Organsation fordert die Bundesregierung auf, zügig mit der wirksamen Umsetzung der Strategie in Deutschland zu beginnen. Deutschland müsse Agrarmittel umschichten, eine eigene Renaturierungsstrategie entwickeln und die bislang vernachlässigten Schutzgebiete endlich besser finanzieren.
Karsten Specht, Vizepräsident des Verbandes kommunaler Unternehmen (VKU), kommentierte:
„Wir begrüßen, dass die EU-Kommission mit ihren heute vorgelegten Strategien den guten Zustand von Ökosystemen, insbesondere in den Bereichen Wasser und Böden, und die Nachhaltigkeit des europäischen Nahrungsmittelsystems stärken will. Wichtig ist dabei vor allem die Verzahnung der unterschiedlichen Politikfelder, die der Grüne Deal anstößt. Der Schutz der Trinkwasserressourcen hängt wesentlich davon ab, dass sich die europäische Gesetzgebung insgesamt an den Zielen der Wasserrahmenrichtlinie ausrichtet. Das betrifft insbesondere die Landwirtschaft."
Die europäische Vereinigung staatlicher Forstbetriebe, Forstunternehmen und - agenturen Eustafor (European State Forest Association) hatte dagegen schon im Vorfeld gefordert, die EU-Biodiversitätsstrategie möge "ausgewogene, realistische und praktikable Ziele" für die Waldbewirtschaftung enthalten. Betonung liegt bei Eustafor auf (nachhaltiger) Bewirtschaftung, nicht auf Wald.
Und der Deutsche Bauernverband? Joachim Rukwied, Präsident des Deutschen und Europäischen Bauernverbandes, nannte die von der EU-Kommission vorgelegten Strategiepapiere einen "Generalangriff auf die gesamte europäische Landwirtschaft". [jg]
Pressemitteilung EU-Kommission
EU-Biodiversitätsstrategie für 2030 [PDF, deutsch, 28 S.: COM(2020) 380 final]
Reaktionen:
BirdLife: A blueprint to save the planet
EEB: EU nature and farming plans welcomed by green groups sowie ausführliche EEB-Bewertung (englisch)
Eustafor