EU-Kommission legt ersten Teil des „Fit für 55“-Pakets vor
Mit dem Maßnahmenbündel soll der Kommission zufolge die Dekarbonisierung der Wirtschaft erreicht werden. Die Reaktionen von Umweltorganisationen fallen gemischt aus. Reicht es tatsächlich für 1,5 Grad?
Am Mittwochnachmittag stellten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, der für den Green Deal zuständige Vizepräsident Frans Timmermanns, EU-Energiekommissarin Kadri Simson, Landwirtschaftskommissar Janusz Wojciechowski, Umweltkommissar Virginijus Sinkevičius, Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni und Verkehrskommissarin Adina Vălean den ersten Teil des Fit-for-55-Pakets der Öffentlichkeit vor.
Was steht drin?
Nach Überzeugung der Kommission werden die Vorschläge das „erforderliche Tempo“ bei der Verringerung der Treibhausgasemissionen bis 2030 bringen. Nötig seien die Anpassungen zentraler Vorschriften im EU-Klima- und Energiebereich aufgrund des angehobenen Klimaziels 2030 von mindestens 55 Prozent weniger Treibhausgasemissionen im Vergleich zu 1990.
Richtlinie über das Europäische Emissionshandelssystem (EU-ETS): das Reduktionsziel soll von 43 auf 61 Prozent erhöht werden (Basisjahr 2005). Der lineare Reduktionsfaktor soll von 2,2 auf 4,2 Prozent steigen. Einmalig soll die Gesamtemissionsobergrenze um 117 Millionen Zertifikate verringert werden. Der ETS soll auf Emissionen im europäischen Schiffsverkehr erweitert werden.
Ein separates Handelssystem für die Sektoren Wärme/Kühlen von Gebäuden und Straßenverkehr mit eigener Marktstabilitätsreserve soll ab 2026 in Kraft treten. Das Reduktionsziel soll 43 Prozent betragen. Der lineare Reduktionsfaktor 2026 – 2028 soll nach dem Willen der Kommission auf 5.15 Prozent und danach auf 5.43 Prozent festgelegt werden.
Die Zuteilung kostenloser Zertifikate soll ab 2026 schrittweise beendet werden. Ab 2036 soll es keine kostenlosen Zertifikate mehr geben.
Energieeffizienz-Richtlinie (EED): Die Einsparziele sollen von 32,5 auf 36 Prozent Endenergieverbrauch und 39 Prozent Primärenergieverbrauch erhöht und das Prinzip „Efficiency first“ gestärkt werden. Artikel 8 soll die Mitgliedstaaten zu Maßnahmen verpflichten, um jährlich Effizienzfortschritte zu erzielen. Hier soll das jährliche Einsparziel ab 2024 von 0,8 auf 1,5 Prozent erhöht werden.
Erneuerbare-Energien-Richtlinie (RED): Der EE-Anteil am Energiemix soll auf 40 Prozent steigen. Neu ist die an den Gebäudesektor gerichtete Vorgabe, bis 2030 mindestens 49 Prozent erneuerbare Energien einzusetzen. Ausbauziele auf Ebene der Mitgliedstaaten bleiben indikativ, also unverbindlich.
Brüssel zufolge werden die Nachhaltigkeitskriterien für die Nutzung von Bioenergie verstärkt. Umweltverbände äußerten Zweifel an der Darstellung (EU-News vom 15.07.2021). Die Mitgliedstaaten sollen überdies Förderregeln für Bioenergie so ausgestalten, dass der Grundsatz der Kaskadennutzung für Holzbiomasse gewahrt werde.
Klimaschutz-Verordnung (früher Lastenteilungsverordnung, ESR): Das Reduktionsziel soll auf 39 Prozent angehoben werden (Basisjahr 2005). Die national verbindlichen Ziele für die Bereiche Landwirtschaft, Verkehr, Gebäude (Heizung, Kühlung) und Abfall bleiben bestehen.
Verordnung über Landnutzung, Landnutzungsänderung und Forstwirtschaft (LULUCF): bis zu 310 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente sollen bis 2030 über natürliche CO2-Senken gebunden werden. Ziel der EU solle sein, bis 2035 Klimaneutralität in der Landnutzung, Forstwirtschaft und Landwirtschaft – auch bei den landwirtschaftlichen Nicht-CO2-Emissionen, etwa aus dem Einsatz von Düngemitteln oder der Viehhaltung – zu erreichen (siehe auch EU-News zu LULUCF vom 15.07.2021).
Energiebesteuerungsrichtlinie: Es ist eine Kerosinsteuer für innereuropäische Flüge geplant, Ausnahmen sollen für Frachtflüge gelten. Der Kommission zufolge sollen saubere Technologien gefördert und überholte Steuerbefreiungen und ermäßigte Steuersätze abgeschafft werden, die zurzeit die Nutzung fossiler Brennstoffe fördern.
Die Richtlinie zur Infrastruktur alternativer Kraftstoffe soll eine Verordnung werden. Die Mitgliedstaaten sollen die Ladekapazitäten ausbauen und entlang großer Verkehrsstraßen in regelmäßigen Abständen Tank- und Ladestationen installieren: alle 60 Kilometer für das Aufladen elektrischer Fahrzeuge und alle 150 Kilometer für die Betankung mit Wasserstoff.
CO2-Standards für neue Pkws und leichte Nutzfahrzeuge: bis 2030 müssen die Automobilhersteller die CO2-Emissionen neuer Pkws um 55 Prozent im Vergleich zu 2021 senken. Fünf Jahre später sollen die Emissionen bei null liegen. Das bedeute de facto das Verkaufsende von Pkws mit Verbrennungsmotor ab 2035. Für neue Transporter soll eine Halbierung der Emissionen 2030 gelten.
Gesetzesvorschlag für einen CO2-Grenzausgleichsmechanismus (CBAM): Dieser soll schrittweise auf die sechs Bereiche Elektrizität, Eisen und Stahl, Aluminium, Düngemittel und Zement angewendet werden. Die kostenlosen Emissionszertifikate für diese Branchen sollen bis 2036 vollständig auslaufen.
Kraftstoffe im Schiffsverkehr (FuelEU Maritime): die Nutzung nachhaltiger Schiffskraftstoffe und emissionsfreier Technologien soll gefördert werden. Es soll eine Obergrenze für den Treibhausgasgehalt des Energieverbrauchs von Schiffen, die europäische Häfen anlaufen, eingeführt werden.
Kraftstoffe im Flugverkehr (ReFuelEU Aviation): Kraftstoffanbieter sollen verpflichtet werden, dem an Flughäfen in der EU angebotenen Turbinenkraftstoff nach und nach mehr nachhaltige Flugkraftstoffe beizumischen, einschließlich synthetischer CO2-armer Kraftstoffe (E-Fuels).
Vorschlag eines Klimaschutz-Sozialfonds: 25 Prozent der Einnahmen aus dem ETS für Wärme und Verkehr sollen in den Fonds fließen. Die Mitgliedstaaten erhalten daraus Mittel, die sie Bürger*innen für Investitionen in Energieeffizienz, neue Heiz- und Kühlsysteme und sauberere Mobilität gewähren können.
Reaktionen aus Umwelt- und Klimaschutzorganisationen
Grundsätzlich sei das Paket begrüßenswert, aber unzureichend, um die Klimakrise wirksam zu bekämpfen, lassen sich die Bewertungen, etwa vom NABU, der Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch oder Deutscher Umwelthilfe (DUH), zusammenfassen. „Fit for 55“ bedeutet nicht „fit für 1,5 Grad“, betonte auch der Umweltdachverband Deutscher Naturschutzring. Die Kommission hätte ehrgeizigere Ziele und Maßnahmen vorschlagen müssen.
Das Climate Action Network (CAN) Europe bewertete im Besonderen die Beibehaltung der Lastenteilungsverordnung (ESR) mit verbindlichen nationalen Reduktionszielen als positiv. Denn zuvor hatte es offenbar Überlegungen gegeben, die ESR einzustampfen (EU-News vom 04.02.2021).
Das Europäische Umweltbüro (EEB) befürchtet derweil, dass im Rahmen des Pakets Kohle, Erdöl und fossiles Gas für mindestens zwei weitere Jahrzehnte im europäischen Energiesystem verbleiben werden.
Der NABU warnte davor, dass die neuen Vorgaben für alternative Kraftstoffe im Schiffsverkehr „einen regelrechten Boom von problematischen Biokraftstoffen und fossilem Flüssiggas“ auslösen könnten.
Aus Sicht vieler Umweltorganisationen seien nun das Europäische Parlament und die EU-Mitgliedstaaten als Co-Gesetzgeber gefragt, die Dossiers an entscheidenden Stellen nachzubessern.
Wie geht’s weiter?
Im Herbst will die EU-Kommission einen zweiten Teil des „Fit for 55“-Pakets vorstellen. Die ko-gesetzgebenden Institutionen EU-Parlament und Rat der EU werden sich mit den Vorschlägen befassen. Die Gesetzgebungsverfahren können sich über Jahre hinziehen.
Website der EU-Kommission: Delivering the European Green Deal
DNR: EU-Kommission legt Klimapaket vor – ‚Fit for 55‘, aber nicht ‚Fit for 1,5°C‘
CAN Europe: ‘Fit for 55’ package furthers EU climate action, but falls short on ambition
EEB: EU’s ‘Fit for 55’ is unfit and unfair
T&E: EU climate plan will make emissions-free cars accessible for all
NABU zu Fit for 55: Paket mit Licht und Schatten
Robin Wood: Kerosinsteuer: Vorschlag der EU-Kommission klimapolitisch ungenügend
WWF European Policy Office: Half-baked EU climate proposals missing key ingredients
Redakteurin: Ann Wehmeyer
Juni-Ausgabe des DNR-Newsletters: Fit for 55 - das EU-Klimapaket
Ist Deutschland „Fit for 55“? Das hinterfragen unsere Autor*innen in Beiträgen über Kohleausstieg und Emissionshandel (Juliette de Grandpré, WWF Deutschland) sowie über einen klimaneutralen Gebäudesektor (Alexandra Langenheld und Georg Thomaßen, Agora Energiewende). Im Interview verweist der deutsche EU-Abgeordnete Michael Bloss (Grüne/EFA) auf die entscheidende Rolle Deutschlands bei den EU-Verhandlungen für das Klimagesetz und mahnt an, dass blumige Worte allein nicht mehr helfen. Auch der DNR und die Klima-Allianz Deutschland fordern eine konstruktive Beteiligung der Bundesrepublik.
Klima-Pledge: Online-Kampagne zur Bundestagswahl 2021
Wenn die Bundesregierung versagt, dann müssen die Bürger*innen handeln. Bei der Bundestagswahl können wir den Stillstand des letzten Jahrzehnts beenden. Dafür startet die Klimabewegung jetzt die größte Kampagne die es zu einer Bundestagswahl bisher gab - den Klima-Pledge.
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