EU-Taxonomie: Streit um Gas und Atomkraft spitzt sich zu
Es ist kein Aprilscherz: Einem durchgestochenen Bericht des Gemeinsamen Forschungszentrums zufolge soll Atomenergie als nachhaltige Investition gelten. Unterdessen drohen neun Mitglieder, die Technische Expertengruppe zu verlassen, wenn die EU-Kommission Gaskraftwerke tatsächlich als nachhaltige Investition einstuft.
Erster Streitpunkt: Atomkraft
Das Nachrichtenmagazin Euractiv und die Nachrichtenagentur Reuters berichten von einem Leak des für diese Woche erwarteten brisanten Berichts des Gemeinsamen Forschungszentrums der EU-Kommission (Joint Research Centre, JRC). Die Kommission hatte das JRC damit beauftragt, zu untersuchen, ob Atomenergie in der EU-Taxonomie für nachhaltige Finanzen als nachhaltig eingestuft werden könne.
Im Entwurf, den Euractiv und Reuters einsehen konnten, heißt es offenbar: „Die Analysen ergaben keine wissenschaftlich fundierten Belege dafür, dass die Atomenergie die menschliche Gesundheit oder die Umwelt stärker schädigt als andere Technologien zur Stromerzeugung.“ Die Lagerung von Atommüll tief unter der Erde sei „angebracht und sicher“.
Zwar räume der Bericht mit Blick auf die Endlagerung von radioaktivem Abfall ein, dass „derzeit keine langfristigen Betriebserfahrungen vorliegen“. Viele „Technologien und Lösungen“ für die Atommülllagerung befänden sich noch in der „Demonstrations- und Testphase“.
Nichtsdestotrotz heißt es wohl weiter: „Bezüglich hochradioaktiver Abfälle und abgebrannter Brennelemente besteht ein breiter Konsens unter Wissenschaftlern, Technikern und Aufsichtsbehörden, dass die Endlagerung in tiefen geologischen Lagern die effektivste und sicherste machbare Lösung ist. Diese kann sicherstellen, dass in der erforderlichen Zeitspanne kein signifikanter Schaden für Mensch und Umwelt entsteht.“
Zwei weitere Expertenausschüsse sollen in den kommenden drei Monaten die Ergebnisse des JRC prüfen, bevor die Kommission eine endgültige Entscheidung trifft.
Zur Frage der Atomenergie veröffentlichte das europäische Büro von der Umweltorganisation Greenpeace diese Woche ein Briefing. Silvia Pastorelli von Greenpeace monierte: „Es wird immer deutlicher, dass die Atomindustrie ohne massive Finanzierung nicht auf eigenen Füßen stehen kann und deshalb verzweifelt nach EU-Unterstützung sucht, da Atomkraft zu teuer ist und neue Projekte verdampfen. Das JRC ist in seinem Bericht gefährlich optimistisch, was die Renovierung der laufenden Atomkraftwerke angeht. Unabhängige Wissenschaftler haben der EU bereits gesagt, dass die unhaltbare Umweltgefahr durch Atommüll Grund genug ist, die Technologie fallen zu lassen. Anstatt zuzulassen, dass eine sterbende Industrie lebenswichtige Finanzmittel verschlingt, sollte die Europäische Kommission echte Klimaschutzmaßnahmen unterstützen und alle falschen grünen 'Lösungen' wie Atomkraft, Gas und Biomasse ausschließen.“
Wahrscheinlich am 9. April wird die Kommission ihre endgültige Position zur EU-Taxonomie festlegen. Für den 21. April ist die Veröffentlichung des entsprechenden delegierten Rechtsaktes vorgesehen. Dann haben EU-Parlament und Mitgliedstaaten zwei Monate Zeit, den Rechtsakt entweder anzunehmen oder abzulehnen. Inhaltliche Änderungen können beide Institutionen jedoch nicht vornehmen.
Euractiv: EU-Fachleute sehen Atomkraft als „grüne Investition“
Greenpeace EU Briefing: Nuclear industry ties call EU research body’s impartiality into question
Zweiter Streitpunkt: Gaskraftwerke
Wie die Nachrichtenagentur Reuters am heutigen Donnerstag berichtete, drohen neun Mitglieder der Technischen Expertengruppe (TEG), die die EU-Kommission über die Taxonomie-Regeln berät, diese zu verlassen, sollte die EU-Kommission tatsächlich Gaskraftwerke als „grüne“ Investition klassifizieren. Als Gründe gaben sie offenbar an, dass der jüngst durchgesickerte Vorschlag aus Brüssel (EU-News vom 25.03.2021) der Klimawissenschaft widerspreche und ihre Reputation gefährde.
„Sollten Politik und Lobbyismus über die Wissenschaft siegen, ist es unsere Verantwortung, Sie darüber zu informieren, dass wir gezwungen wären, unseren Beitrag zur Plattform zu überdenken“, heißt es in einem Brief an die Kommission, den Reuters nach eigener Aussage einsehen konnte.
Entgegen dem Kommissionsvorschlag plädieren die neun TEG-Mitglieder dafür, das grüne Label für fossiles Gas zu verweigern. Bioenergie und Forstwirtschaft sollten vorübergehend aus den Regeln ausgenommen und detaillierter diskutiert werden.
Zu den Unterzeichnern gehören Finanzexpert*innen der Umweltorganisationen WWF, Transport & Environment und Agent Green sowie Wissenschaftler*innen. Der TEG gehören auch Vertreter*innen aus der Industrie und dem Finanzsektor an.
Am Dienstag wiederum hatte Euractiv berichtet, dass Polen, Bulgarien und sieben weitere EU-Länder ihre gasfreundliche Position offenbar in einem Schreiben an die Kommission bekräftigten. Sie drängen darauf, Erdgas als nachhaltige Investition einzustufen, und meinen, dass der jüngste Vorschlag zu kurz greife.
Die Gruppe sei vielmehr der Ansicht, dass der neue Vorschlag aus Brüssel von vergangener Woche die individuellen Bedürfnisse der EU-Mitgliedstaaten ignoriere. Viele dieser Länder planten, Gas zu nutzen, um die noch schädlichere Kohle zu ersetzen. Ihr Appell an die Kommission: mehr Gaskraftwerken ein grünes Label zu geben.
In scharfem Kontrast zu dieser Forderung hatten sich über 100 Umweltorganisationen in der vergangenen Woche positioniert und die EU-Kommission dazu gedrängt, „diesen Richtungswechsel zu überdenken und den delegierten Rechtsakt zu überarbeiten, um fossile Brennstoffe ein für alle Mal zu eliminieren“ (nochmal EU-News vom 25.03.2021).
Reuters: Nine EU advisers threaten walkout over sustainable finance row
Euractiv: Poland, others step up push for gas in EU green finance rules: document
Redakteurin: Ann Wehmeyer