Naturschutz am Scheideweg: Die Wildnis gentechnisch verändern?
Weltnaturschutzkongress in Marseille ringt um Position zum Einsatz von Gene Drives
Marseille – Hat Gentechnik einen Platz im Naturschutz? Die gentechnische Veränderung wildlebender Arten wird seit der Entdeckung von Gentechnikverfahren wie CRISPR/Cas als Möglichkeit diskutiert, um gefährdete Arten an den Klimawandel anzupassen oder invasive Arten zu bekämpfen. Darüber diskutieren die Mitglieder der Weltnaturschutzunion IUCN auf ihrer Mitgliederversammlung vom 8. bis zum 10. September in Marseille.
Der Rat des weltweit größten Netzwerks staatlicher und zivilgesellschaftlicher Naturschutzinstitutionen und -organisationen schlägt in seiner Resolution 075 vor, Prinzipien und Grundsätze für einen Positionsfindungsprozess der IUCN zu entwickeln. Auf deren Basis soll dann beim Weltnaturschutzkongress 2024 eine Position zu dieser kontroversen Frage abgestimmt werden. Eine solche Positionierung wäre nicht nur richtungsweisend für die fast 1.000 Mitgliedsorganisationen der IUCN, sondern hätte auch eine erhebliche politische Wirkung auf die Debatte um die Regulierung und Risikobewertung neuer gentechnischer Verfahren wie Gene Drives, die unter dem Überbegriff „Synthetische Biologie“ im Rahmen der UN-Biodiversitätskonvention (CBD) geführt wird.
Doch vielen Mitgliedern der IUCN könnte noch gar nicht bewusst sein, vor welche Grundsatzfragen sie gestellt werden. Die Resolutionsvorlage mit dem Titel “IUCN Principles on Synthetic Biology and Biodiversity Conservation“ erwähnt bislang nur im Anhang, dass es sich bei Synthetischer Biologie um Gentechnik und bei den mehrfach genannten Gene Drives um eine extreme Anwendungsform der Gentechnik handelt, mit der ganze Populationen wildlebender Tiere oder Pflanzen manipuliert oder gar ausgerottet werden können.
Mareike Imken von „Save Our Seeds“, die als Delegierte für den Deutschen Naturschutzring (DNR) in die Verhandlungen über den Resolutionstext in Marseille eingebunden ist, fordert, die Grundsatzfrage über die Befürwortung oder Ablehnung von Gentechnik für den Naturschutz klar und deutlich ins Zentrum der Resolution und den angestrebten Meinungsbildungsprozess zu stellen. „Wir begrüßen den Willen seitens der IUCN, einen breit angelegten Konsens unter seinen Mitgliedern zum Thema herbeizuführen. Als Grundlage dafür sollte die Resolution jedoch anerkennen, dass der im Jahr 2019 veröffentlichte IUCN Bericht „Genetic Frontiers for Conservation“ keine ausreichende Grundlage für eine Entscheidungsfindung bietet.“
Dr. Ricarda Steinbrecher, die als wissenschaftliche Beraterin für Pro Natura, Schweiz, am Weltnaturschutzkongress teilnimmt, erklärt: „Die gentechnische Veränderung wildlebender Arten birgt offensichtliche ökologische Risiken und Gefahren, und haette auch kulturelle, ethische und sozio-oekonomische Auswirkungen. Diese benennt der IUCN Bericht “Genetic Frontiers for Conservation“ nicht ausreichend, obwohl er die Basis fuer eine Positionierung bieten sollte. Um auf Grundlage des in der Resolution genannten Vorsorgeprinzips eine Position entwickeln zu koennen, muesste die IUCN zumindest die offenen Fragen zum Thema sammeln und den aktuellen Stand des Nichtwissens zur Kenntnis nehmen.“
Florian Schöne, Geschäftsführer des Umweltdachverbands Deutscher Naturschutzring (DNR), ergänzt: „Der DNR lehnt Gentechnik sowohl in der Landwirtschaft als auch im Naturschutz grundsätzlich ab und fordert ein weltweites Moratorium für die Nutzung der Gene Drive Technologie. Statt Zeit und Hoffnung mit riskanten und teuren Maßnahmen zur Symptombekämpfung zu verschwenden, muss sich die IUCN darauf konzentrieren, die Ursachen des dramatischen Artensterbens anzugehen.“
Hintergrund zur Resolution 075
Die zur Abstimmung stehende Resolution 075 hat zum Ziel, Prinzipien zur Synthetischen Biologie und zum Schutz der Biodiversität zu definieren, auf deren Grundlage sich der IUCN zu dem Thema positioniert. Ursprünglich sollte laut Beschluss "WCC-2016-Res-086" der IUCN-Mitgliederversammlung 2016 diese Position bereits auf dem aktuellen Weltkongress verabschiedet werden.
Sowohl IUCN-Mitglieder [i] als auch andere zivilgesellschaftliche Organisationen [ii] hatten in offenen Briefen und Veröffentlichungen die Art und Weise kritisiert, wie dieser Beschluss zunächst umgesetzt wurde: Die IUCN-Mitglieder seien über die der Positionierung zugrundeliegenden Fragen unzureichend informiert. Darüber hinaus biete ein im Jahr 2019 der IUCN vorgelegter Bericht mit dem Titel "Genetic Frontiers for Conservation" [iii], der mehrheitlich von Befürworter*innen der Technologie verfasst wurde, keine ausreichende Grundlage für eine gemeinsame Positionierung. Darauf reagierte der IUCN-Rat mit der nun zur Abstimmung stehenden Resolution 075. Sie sieht vor, zunächst ethische Grundsätze für den internen Positionsfindungsprozess festzulegen.
Was ist Synthetische Biologie?
Der Begriff „Synthetische Biologie“ ist ein nicht präzise und verbindlich definierter Begriff, der die Anwendung von Biotechnologieverfahren beschreibt, mit denen biologische Systeme synthetisch konstruiert oder umgestaltet werden. Der IUCN Bericht „Genetic Frontiers for Conservation“ zum Beispiel wirft dabei eine Vielzahl alter und neuer gentechnischer und auch nicht gentechnischer Methoden in einen Topf. Die Synthetische Biologie kann auf Zellen, Organismen oder sogar ganze Populationen angewendet werden. Sie wird für unterschiedliche Anwendungsfelder entwickelt: zur Nutzung in geschlossenen Systemen, zur Nutzung in Kulturpflanzen in der Landwirtschaft und neuerdings auch zur Nutzung in nicht domestizierten, wilden Populationen in der freien Natur.
Was sind Gene Drives?
Gene Drives sind eine extreme Form der Synthetischen Biologie. Sie zielen darauf ab, eine Wildpopulation oder ganze Tier- oder Pflanzenarten gentechnisch zu verändern, zu ersetzen oder auszurotten. Bei einem Gene Drive werden die Regeln der Vererbung außer Kraft gesetzt und die Durchsetzung bestimmter Gensequenzen und Merkmale in einer Wildpopulation innerhalb weniger Generationen rasch erhöht. Vom Menschen ausgewählte Merkmale – wie absichtliche Unfruchtbarkeit oder die Selektion auf nur ein Geschlecht – sowie der gentechnische Mechanismus selbst werden mit einer künstlich hohen Rate an die Nachkommen weitervererbt.
Die Entwickler*innen von Gene Drives wollen diese Technologie zur Kontrolle, Dezimierung oder Ausrottung von Wildarten einsetzen, die als landwirtschaftliche Schädlinge gelten, zu invasiven Arten geworden sind oder Infektionskrankheiten übertragen können.
Einige wenige Naturschutzorganisationen, darunter das IUCN-Mitglied Island Conservation, befürworten die Nutzung von Gene Drives zu Naturschutzzwecken. Der Hintergrund: Durch internationalen Handel und menschlichen Transport eingeschleppte Mäuse wurden auf Inseln wie Galapagos oder Neuseeland zu invasiven Arten und bedrohen heimische Vogelarten, deren Eier und Brut sie fressen. Mit der Gene-Drive-Technologie will Island Conservation Sterilität in der ansässigen Mäusepopulation verbreiten und diese so auf den Inseln ausrotten.
Kontakt für Rückfragen:
Mareike Imken | Delegierte für den DNR beim Weltnaturschutzkongress
Tel.: +49 0151-53112969
E-Mail: imken@saveourseeds.org
Mehr Informationen unter: www.stop-genedrives.eu
Und in der Broschüre: Gene Drives – die neue Dimension der Gentechnik
Quellen:
[i] Offener Brief von IUCN Mitgliedern (2019): Open Letter by the undersigned IUCN Members to the IUCN Council
[ii] Offener Brief der Zivilgesellschaft (2019): Open Letter to the IUCN Council.
[iii] IUCN 2019: Genetic Frontiers for Conservation. An assessment of synthetic biology and biodiversity conservation.
ETC Group 2019: A review of the evidence for bias and conflict of interest in the IUCN report on synthetic biology and gene drive organisms.
Testbiotech 2021: Testbiotech comment on the IUCN report “Genetic frontiers for conservation, an assessment of synthetic biology and biodiversity conservation.
ENSSER 2021: Gentechnisch veränderte Gene Drives. Der Bericht der IUCN zur synthetischen Biologie ist unausgewogen.