Agrarrat uneins über Pestizide und Gentechnik
Gedankenaustausch und Diskussion – die komplexen Debatten über die Vorschläge zur nachhaltigen Verwendung von Pflanzenschutzmitteln (SUR) und über neue gentechnische Verfahren (NGT) lassen derzeit noch keine Entscheidungen der EU-Landwirtschaftsminister*innen zu. Dafür gab es formale Beschlüsse im Energiesektor.
GAP-Vorgaben, der Agrarmarkt und Entscheidungen zu Energiethemen standen ebenfalls auf der Agenda des Ministerrates. So stimmte der Rat formal für drei „Fit for 55“-Vorschläge: Energie-Effizienz-Richtlinie, FuelEU Maritime und Infrastruktur für alternative Kraftstoffe.
Die Lage auf dem europäischen und globalen Agrarmarkt war ebenso Gegenstand des ersten Ministerratstreffens unter spanischer Präsidentschaft wie die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf das Getreideabkommen (EU will Solidaritätskorridor einrichten). Doch richtig strittig sind weiterhin Pestizide, Gentechnik und Umweltauflagen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP).
Weiter Skepsis bei Verordnung über die nachhaltige Verwendung von Pflanzenschutzmitteln
Auch wenn der neue Vorsitzende, der Spanier Luis Planas Puchades, seine Absicht bekräftigte, die Pestizid-Verordnung (SUR) auf Ratsebene bis Jahresende zum Abschluss zu bringen: Einigkeit herrscht noch nicht unter den EU-Landwirtschaftsminister*innen. Der Agrarrat hatte im Dezember eine ergänzende Folgeabschätzung für die SUR gefordert, die die EU-Kommission im Juli als Studie veröffentlichte und die die Grundlage der Debatte bildete.
Einigen Ministerien fehlen weiterhin „einige wichtige Elemente in Bezug auf die Auswirkungen der Reduzierung von Pflanzenschutzmitteln“. Verbindliche Reduktionsziele auf nationaler Ebene lehnen viele Mitgliedstaaten ab – sie fordern Flexibilität. Unklar scheint auch noch die Definition, was ein „sensibles Gebiet“ ist und wie mit der „geringen Verfügbarkeit nicht-chemischer Alternativen“ umzugehen ist. Weitere Kritikpunkte: Auswirkungen auf die Lebensmittelpreise und die Ernährungssicherheit sowie der potenziell steigende Verwaltungsaufwand für kleine landwirtschaftliche Betriebe. Die Studie müsse auf technischer Ebene weiter erörterte werden, forderte der Agrarrat, insgesamt wolle man aber „konstruktiv“ an dem Vorschlag arbeiten.
Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir sprach sich für die Vereinbarung europäischer statt nur nationaler Ziele aus (Videomitschnitt/Twitter), nannte aber auch einige aus seiner Sicht vorhandenen „Baustellen“ unter anderem die Frage, was genau ein sensibles Gebiet ausmacht, welches Referenzjahr zu Grunde gelegt wird, und wie hoch der bürokratische Aufwand wird. Darüber hinaus sprach er sich gegen die Verwendung des Totalherbizids Glyphosat aus und kritisierte, dass das kürzlich veröffentlichte EFSA-Gutachten „wesentliche Auswirkungen auf die Natur nicht berücksichtigt“ habe.
Das Pestizid Aktions-Netzwerk PAN Europe hatte in einem offenen Brief gefordert, dass der Agrarrat die SUR mitträgt. Die Studie bestätige, dass ein gut geplanter Übergang keine negativen Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von Lebensmitteln habe, zudem gebe es bis 2030 einen langen Übergangszeitraum. Klima- und Biodiversitätskrise, Bodendegradation, Landschaftsverschlechterung und der Verlust von Ökosystemleistungen stellten die wirklich ernsthaften Risiken für die Ernährungssicherheit dar. Es bestehe ein breiter wissenschaftlicher Konsens darüber, dass Bestäuber für die Ernährungssicherheit von entscheidender Bedeutung sind und durch den Einsatz von Pestiziden stark beeinträchtigt werden.
Neue Gentechnik: Verlagerung der Diskussion auf „technische Ebene“
Die durchgeführte „Orientierungsdebatte“ soll Grundlage für die Arbeiten auf „technischer Ebene“ sein, die schon im Juli über den stark umstrittenen und von Umweltverbänden abgelehnten Vorschlag der EU-Kommission zu neuen genomischen Techniken beginnen sollen. Die Bandbreite reicht von unbedingter Unterstützung bis Kompromisslösung. So sagte der spanische Agrarminister Luis Planas Puchades: „Eine der Prioritäten des spanischen Ratsvorsitzes ist es, alles, was mit den neuen Technologien und den neuen Genomtechniken zusammenhängt, voranzutreiben, und dies umso mehr im Zusammenhang mit dem Klimawandel. Die neuen Genomtechniken werden es ermöglichen, mit Hilfe der Wissenschaft die Evolution zu beschleunigen […], indem Pflanzen angebaut werden können, die weniger Wasser, Dünger oder Pflanzenschutzmittel benötigen.“ Ökolandbauverbände sind diesbezüglich gänzlich anderer Meinung.
Cem Özdemir wiederum will sich nach eigenen Worten (Videomitschnitt/Twitter) mit einem Kompromissvorschlag dafür einsetzen, dass eine gesicherte Koexistenz zwischen NGT-Anbau, konventionellem gentechnikfreiem Anbau und Ökolandbau möglich und somit Wahlfreiheit erhalten bleibt.
GAP-Vorgaben: Verlängerte „Schonzeit“ für Fruchtfolge und Biodiversitätsflächen?
Die neuen Vorgaben der reformierten Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) zum „guten landwirtschaftlichen und ökologischen Zustand“ (GLÖZ) bereiten einigen Mitgliedstaaten Kummer. So forderte unter anderem Rumänien mit Unterstützung von 13 Mitgliedstaaten im Agrarrat auch für das nächste Jahr eine Aussetzung der Standards von GLÖZ 7 (Fruchtwechsel auf Ackerland) und GLÖZ 8 (verpflichtende Stilllegung von vier Prozent der Ackerfläche aus Biodiversitätsschutzgründen). Zunehmende Dürre, Wetterextreme und den Krieg in der Ukraine nannten die Staaten als Begründung.
Umweltverbände und wissenschaftliche Studien zeigen allerdings regelmäßig auf, dass beide Standards positive Effekte haben - auf Bodenbiodiversität und Klimaresilienz sowie die Artenvielfalt. Eine kürzlich von der Universität Göttingen, dem Thünen Institut und dem ornithologischen Dachverband DDA durchgeführte Studie belegt, dass Vogelbestände von landwirtschaftlichen Brachflächen profitieren, weil diese Lebensraum für die bedrohte und abnehmende Artenvielfalt auf landwirtschaftlichen Flächen bieten. Der Deutsche Naturschutzring hatte bereits im vergangenen Jahr ein Positionspapier zu Brachen veröffentlicht, die „unverzichtbare Rückzugsräume für die Artenvielfalt“ seien. [jg]
Agrarrat: Agriculture and Fisheries Council, 25. Juli 2023, Main Results
ENDS Europe (kostenpflichtig): Grappling with drought, ministers urge longer exemption for green farming rules