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Globaler Chemikalienrahmen: „Solide, aber freiwillig und nicht genug“
EU-News | 05.10.2023
#Chemikalien #EU-Umweltpolitik #Politik und Gesellschaft

Globaler Chemikalienrahmen: „Solide, aber freiwillig und nicht genug“

Internationale Protestgruppe bei der UN-Chemikalienkonferenz 2023 in Bonn
© Oliver Baldes
Nichtregierungsorganisationen fordern eine giftfreie Zukunft und globale Verantwortung auf der ICCM5-Konferenz in Bonn im September 2023

Interview mit Tom Kurz, Forum Umwelt & Entwicklung

Vom 25. bis 29. September 2023 fand in Bonn das fünfte Treffen der International Conference on Chemicals Management (ICCM5) unter dem Dach der UNEP, dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen, statt. Herr Kurz, Sie haben für das Forum Umwelt & Entwicklung die parallel zur Weltchemikalienkonferenz stattfindende Schattenkonferenz der Zivilgesellschaft mitorganisiert. Wie weit klaffen denn die Positionen auseinander? Was ist offiziell herausgekommen?

Grundsätzlich ist die verabschiedete Bonner Erklärung zu begrüßen und das Ergebnis ist sogar positiver als erwartet, allerdings nicht weitreichend genug. Auf der Erfolgsseite ist ein durchaus progressiver Zielkatalog zu nennen. So ist es zum Beispiel gelungen, ein Ziel zu formulieren, dass die Nutzung von hochgefährlichen Pestiziden bis 2035 auslaufen soll. Allerdings sind alle progressiven Ziele so formuliert, dass ein Hintertürchen offenbleibt. Um bei dem Beispiel mit den hochgefährlichen Pestiziden zu bleiben: Die Nutzung der hochgefährlichen Pestizide kann nur auslaufen, wenn Alternativen verfügbar sind oder aber eine sichere Handhabung nicht gewährleistet ist.

Ähnlich ist es bei allen anderen Zielen auch: Es gibt zu viele Schlupflöcher und das Grundsatzproblem ist, dass das alles freiwillig bleibt. Das haben einige Stakeholder vehement eingefordert. Außerdem gibt es keinerlei Sanktionen, wenn Fristen verstreichen und Zielmarken nicht erreicht werden. Ein weiteres Grundproblem ist die chronische Unterfinanzierung des Abkommens, daran ist auch schon der „Strategic Approach to International Chemicals Management“ (SAICM) gescheitert – das Vorgängerabkommen, das offiziell 2020 auslief. Nun gibt es einen neuen Namen, nämlich Global Framework on Chemicals (GFC), das an vielen Stellen ein solides Abkommen ist, aber leider der stetig wachsenden Problemlage weiter nicht gerecht wird. Dafür hätte es ambitionierter sein müssen.

Auf der Habenseite sind zusätzlich noch einige gute Resolutionen zu nennen, zum Beispiel zu Gender und Chemikalien, wo Gender-Aktionspläne erstellt werden sollen, damit vulnerable Gruppen endlich besser geschützt werden. Es soll außerdem eine zusätzliche globale Allianz gegen hochgefährliche Pestizide geben und die bisher unter SAICM verhandelten Schwerpunktthemen bleiben erhalten und sollen mit Arbeitsplänen und anderen Instrumenten weiterentwickelt werden.

Das Global Framework on Chemicals (GFC) ist an vielen Stellen ein solides Abkommen, wird aber leider der stetig wachsenden Problemlage nicht gerecht.
Tom Kurz, Forum Umwelt & Entwicklung

EU-Umweltkommissar Virginijus Sinkevičius hat auf X gepostet: „Wir müssen zu sicheren und nachhaltigen Chemikalien übergehen. Dazu brauchen wir eine globale Verpflichtung. Dies wird dazu beitragen, Leben zu retten und die Umwelt zu schützen!“. Konnten Sie verfolgen, ob sich die EU als Verhandlungspartnerin mit progressiven Vorschlägen hervorgetan hat?

Auf der Konferenz zählte die EU auf alle Fälle zu den progressiveren Regionen, wenn sie auch ihrer globalen Verantwortung als Chemiestandort nicht in dem Maße nachkommt, wie es nötig wäre. Bei den Zielformulierungen hatte ich den Eindruck, dass die EU progressive Punkte unterstützt hat, teilweise auch die Belange des Globalen Südens, aber insgesamt zu zaghaft war. Vor allem gab es aus der EU keinerlei Finanzierungszusagen, nur einzelne EU-Mitgliedstaaten wie Deutschland und Frankreich haben Zusagen gemacht.

Was bei den Verhandlungen außerdem immer ein Manko ist: Die EU hat keine Gesprächsangebote an die Zivilgesellschaft gemacht und war kaum offen für Austausch, da muss man sich abkämpfen, um mal zehn Minuten Zeit zu bekommen. Das läuft mit den Vertreter*innen der Afrikanischen Region oder den 33 Staaten der Group of Latin American and Caribbean States (GRULAC) anders, da sind Nichtregierungsorganisationen als Gesprächspartner fester Bestandteil in den regionalen Vorabstimmungen.

Und was hat das Gastgeberland Deutschland beigetragen, damit es am Ende eine globale Verpflichtung gibt?

Deutschland hat als eines der wenigen einzelnen Länder beispielsweise 20 Millionen Euro für das Abkommen zur Verfügung gestellt, die EU nichts und Frankreich 400.000 Euro. Dennoch habe ich gemischte Gefühle: Einerseits ist diese Finanzzusage ein wirklich gutes und wichtiges Zeichen. Und die Vertreterinnen des Bundesumweltministeriums wie Ministerin Steffi Lemke und die Staatssekretärinnen Bettina Hoffman und Christiane Rohleder sind durchaus ambitioniert aufgetreten. Allerdings hatten sie scheinbar keinerlei Rückendeckung aus anderen Ressorts. Das zeigte sich zum Beispiel daran, dass weder Bundeskanzler Olaf Scholz noch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck vor Ort waren. Lieber haben sie sich am 27. September in Berlin zu einem Exklusivtreffen mit der Industrie, also dem Verband der Chemischen Industrie (VCI) und der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) verabredet – mit NGOs gab es kein Treffen. Beide hatten lediglich Videobotschaften nach Bonn geschickt, wobei die mehr als enttäuschend ausfielen und bei den anwesenden Stakeholdern teilweise für Empörung gesorgt haben. Scholz‘ Rede war extrem nah an der Industrieposition und hat eher den Chemikalien ihre potenzielle Gefährlichkeit abgesprochen, sondern mehr auf ein gutes Management derselben abgehoben. Habeck hat ebenfalls für den risikobasierten Ansatz plädiert, was dem im Rahmen von SAICM diskutierten gefahrenbasierten Ansatz nach dem Vorsorgeprinzip widerspricht! Auch BASF, VCI oder Bayer hatten ihre CEOs scheinbar nicht zu den Verhandlungen geschickt, was im Gastgeberland ja eher ein trauriges Signal ist.

Ansonsten haben die Organisatoren schon den Versuch unternommen, ein richtig großes Event mit vielen Infoständen und Side Events auch jenseits der eigentlichen Verhandlungen zu veranstalten, um das Thema angemessen zu platzieren. Das wurde leider nur bedingt angenommen. Und während der Verhandlungen selbst fehlte eine klare Führungsrolle, was die dynamischen Verhandlungen teilweise chaotisch werden ließ. Dies führte auch dazu, dass sich der Abschluss der Konferenz bis in die Morgenstunden des Samstags zog. Die Verhandlungen sollten laut Plan Mittwoch Abend beendet sein und die neue Vereinbarung am Freitag Nachmittag beschlossen worden sein. Am Samstag Morgen waren dann schon viele Stakeholder nicht mehr da, da sie bereits ihre Rückreise antreten mussten.

Und wie geht es weiter?

Wir warten jetzt die offiziellen Schlussdokumente ab und werden als deutsche NGOs den Prozess natürlich weiter kritisch begleiten!

[Interview: Juliane Grüning]

 

Offizielle Seite der ICCM5 und Bericht über ICCM5 (Earth Negotiation Bulletin)

BMUV: Globales Rahmenwerk für eine Welt ohne Schäden durch Chemikalien und Abfälle verabschiedet und Rede Steffi Lemke zur Eröffnung des High-Level Segments

Bündnis Giftfreie Zukunft: Mehr als erwartet, weniger als notwendig – Globale Vereinbarung liefert keinen ausreichenden Schutz vor Chemikalien

Deutschlandfunk: Konferenz ICCM5: Die Chemie stimmt nicht mehr

Der Interviewpartner

Tom Kurz ist Referent für Internationale Chemikalienpolitik beim Forum Umwelt & Entwicklung in Berlin. Das Forum ist Teil des Bündnisses „Für das Recht auf eine giftfreie Zukunft”.

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