Deutschland tut nicht genug zur Verhütung schwerer Chemieunfälle
Die EU-Kommission hat wieder Missstände bei der Umsetzung von EU-Umweltrecht angeprangert. Die Vertragsverletzungsverfahren im Dezember reichen von Abfallrecht über Naturschutz- bis Wasserrecht. Deutschland, Estland und Polen haben die Rechtsvorschriften zur Verhütung schwerer Unfälle mit gefährlichen Stoffen nicht vollständig umgesetzt. Der Rechnungshof hat derweil analysiert, dass die Vertragsverletzungsverfahren zu lange dauern.
Auch Portugal muss bei den nationalen Rechtsvorschriften zur Verhütung schwerer Unfälle mit gefährlichen Stoffen nachbessern, hat aber – im Gegensatz zu den drei anderen Staaten – erst die erste Stufe des Vertragsverletzungsverfahrens erreicht: ein Aufforderungsschreiben, sich zum Sachverhalt zu äußern.
Deutschland, Estland und Polen sind schon bei Stufe zwei, der mit Gründen versehenen Stellungnahme, nachdem die EU-Kommission mit der Antwort auf das Aufforderungsschreiben nicht zufrieden war. Es geht dabei um die Richtlinie zur Beherrschung der Gefahren schwerer Unfälle mit gefährlichen Stoffen („Seveso III“). Diese gilt für mehr als 12.000 Industrieanlagen in der EU, in denen gefährliche Stoffe in großen Mengen verwendet oder gelagert werden. Sie enthält außerdem Vorschriften zur Verhütung schwerer Industrieunfälle und zur Minimierung ihrer schädlichen Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt. In ihren Anwendungsbereich fallen Wirtschaftszweige wie die chemische und petrochemische Industrie, der Kraftstoffgroßhandel und Kraftstofflager. Die Länder haben nun zwei Monate Zeit zu reagieren. Treten weiterhin Verstöße auf und die Reaktion genügt nicht zur Umsetzung geltenden Rechts, kann Stufe drei folgen: die Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH).
Klage vor dem EuGH
Dies betrifft beispielsweis die Slowakei. Das Land wird wegen mangelnder Behandlung von kommunalem Abwasser vor dem Gerichtshof der Europäischen Union verklagt. Im Falle einer Verurteilung kann dies zu empfindlichen Geldstrafen führen.
Stufe 1: Aufforderungsschreiben
Die EU-Kommission hat Schweden aufgefordert, die Wasserrahmenrichtlinie korrekt umzusetzen. Portugal soll bei den EU-Vorschriften über mittelgroße Feuerungsanlagen nachbessern. Italien soll Diskriminierungsfreiheit im grenzüberschreitenden Güterkraftverkehr sicherstellen. Ungarn und Polen müssen bei der zivilen Luftfahrt nachbessern, Griechenland bei der Eisenbahnsicherheit.
Stufe 2: mit Gründen versehene Stellungnahme
Die EU-Kommission fordert Deutschland zur vollständigen Umsetzung der Richtlinie über die Straffung von Maßnahmen zur besseren Umsetzung von Projekten des transeuropäischen Verkehrsnetzes (TEN-T) auf. Die zugehörige Richtlinie trat 2021 in Kraft und soll die Vollendung des TEN-T durch Vereinfachung und Präzisierung der Genehmigungs- und Vergabeverfahren beschleunigen. Sie betrifft Vorhaben des TEN-T-Kernnetzes mit hoher Priorität, grenzüberschreitende Initiativen und europäische Verkehrskorridore mit einem Umfang von mehr als 300 Millionen Euro.
Polen muss die EU-Vorschriften über die Qualität der Badegewässer besser einhalten und sein Natura 2000-Netz vervollständigen. Griechenland und Zypern müssen die Abfallbehandlung verbessern und Bulgarien das Verursacherprinzip bei der Berechnung der Abfallbewirtschaftungsgebühr anwenden.
Rechnungsprüfer: „EU-Vertragsverletzungsverfahren dauern zu lange“
9.000 Vertragsverletzungsverfahren hat die EU-Kommission zwischen 2012 und 2023 eingeleitet. Geldstrafen werden allerdings nur selten verhängt und wirken nicht immer abschreckend. Das hat der Europäische Rechnungshof (ECA) in seinem jüngsten Prüfbericht dargelegt. Die Europäische Kommission sei bei der Aufdeckung und Behebung von Verstößen gegen das EU-Recht zwar besser geworden, aber es dauere „immer noch zu lange, bis die in solchen Fällen eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren abgeschlossen sind“. Zwischen 2012 und 2023 habe die Behörde zudem mehr als 8.000 Petitionen vom EU-Parlament erhalten, darunter auch solche, in denen auf Verstöße gegen das EU-Recht hingewiesen wird. Ferner habe es fast 43.000 Beschwerden von Bürgerinnen und Bürgern, Unternehmen und Interessengruppen gegeben. Nicht nur also, dass die EU-Mitgliedstaaten Gesetze nicht oder nur teilweise oder zu spät umsetzen: Auch die Kontrolle, Ermahnung und Ahndung weist Mängel auf. Zwar würden die Verfahren meist beigelegt, bevor die Kommission finanzielle Sanktionen vorschlagen müsse. Aber es gibt nach Feststellung der EU-Prüfer*innen auch Fälle, in denen EU-Länder jahrelang Strafen gezahlt hätten, anstatt die Verstöße zu beheben.
„Wir [können] es uns nicht erlauben [...], die eh vielfach schwachen politischen Kompromisse in den EU-Mitgliedstaaten [...] nicht umzusetzen. Dies gefährdet zuallererst die in den Gesetzen vereinbarten Ziele, also sauberes Wasser, intakte Natur, etc. Dies gefährdet sodann aber auch das große Ganze, nämlich das Vertrauen der Bürger*innen in die EU und ihre Institutionen“, kommentierte der EU-Experte Raphael Weyland im NABU-Blog. [jg]
EU-Kommission: Vertragsverletzungsverfahren im Dezember: wichtigste Beschlüsse
ECA: news-sr-2024-28 und Sonderbericht 28/2024