EU-Kommission: Ursula von der Leyens zweite Amtszeit
Mit Mehrheiten aus der „politischen Mitte“ ist Ursula von der Leyen vom neuen EU-Parlament als EU-Kommissionspräsidentin bestätigt worden. Ihre politischen Leitlinien setzen auf Wettbewerb, Sicherheit und saubere Industrie. Die Reaktionen aus den Umweltverbänden schwanken zwischen Hoffnung und Skepsis.
401 Abgeordnete stimmten in geheimer Abstimmung am 18. Juli für von der Leyen, 284 dagegen, und 22 Stimmzettel waren leer oder ungültig. Gewählt wurde die EU-Kommissionspräsidentin von EVP, S&D, Grünen und Teilen der Liberalen, nicht aber von der deutschen FDP. In der vorangegangenen Debatte hatte von der Leyen ihre politischen Leitlinien vorgestellt (Videomitschnitt).
In ihrer „Vision für ein stärkeres und wohlhabenderes Europa“ sind Schlüsselinitiativen wie ein neuer „Clean Industrial Deal“ enthalten, den sie innerhalb der ersten 100 Tage vorlegen will, um die Dekarbonisierung und das industrielle Wachstum voranzutreiben, und ein Europäischer Wettbewerbsfonds, um Innovationen zu fördern. Sicherheitspolitik (europäische Luftverteidigung, Personalverdopplung von Europol und Verdreifachung der europäischen Grenz- und Küstenwache auf 30.000), ein „Demokratie-Schild“ gegen Manipulation und Einflussnahme aus dem Ausland sowie ein „Europäischer Plan für erschwinglichen Wohnraum“ sind ebenfalls auf ihrer Agenda. Hierfür will sie neue Ressorts in der EU-Kommission einrichten: ein Kommissar oder eine Kommissarin für Verteidigung soll die Europäische Verteidigungsunion vorantreiben, ein neuer EU-Kommissar oder eine neue EU-Kommissarin für Wohnungswesen soll die Wohnungskrise angehen. Eine zuständige Person in der EU-Kommission für den Mittelmeerraum soll dort die regionale Stabilität und Zusammenarbeit fördern und ein weiteres Kommissariat für Generationengerechtigkeit soll sicherstellen, dass die Politik die Bedürfnisse künftiger Generationen berücksichtigt. Nicht zuletzt sollen alle Kommissar*innen ihre Bereiche „entbürokratisieren“.
Von der Leyens politische Leitlinien für 2024-2029
In den erwähnten politischen Leitlinien für die nächsten fünf Jahre legt Ursula von der Leyen auf 31 Seiten genauer dar, was sie vorhat. „Für jeden etwas“ konstatierte der dpa-Europaticker.
Der große Schwerpunkt liegt auf Wettbewerbsfähigkeit und den oben erwähnten Aspekten wie Verteidigung und Sicherheit. Ursula von der Leyen bekannte sich aber auch ausdrücklich zum Green Deal: „Wir müssen und werden an allen unseren Zielen festhalten, auch an denen, die im Europäischen Green Deal festgelegt sind“, heißt es im Text. Allerdings ist die neue Losung „A Clean Industrial Deal“. Darin enthalten: Entbürokratisierung, Infrastruktur- und Industrieinvestments besonders für energieintensive Industrien durch einen „Industrial Decarbonisation Accelerator Act“ und der Zugang zu günstigen und nachhaltigen Energien und Materialien. Als Teil des nächsten Mehrjährigen Finanzrahmens soll es einen europäischen Wettbewerbsfonds geben, um strategische Technologien wie künstliche Intelligenz, Biotechnologie oder Weltraumtechnik in Europa zu entwickeln und zu fördern. Auch für die Kreislaufwirtschaft ist ein Circular Economy Act geplant, in dem unter anderem ein Markt für Sekundärmaterialien und der Binnenmarkt für Abfall ausgebaut werden soll. Eine Antwort auf die Frage nach dem Verbrenner-Aus blieb von der Leyen in einer Pressekonferenz schuldig, berichtet der dpa-Europaticker. In den Leitlinien ist aber eine Initiative für Ausnahmen für E-Fuels angekündigt. Das Klimaneutralitätsziel für 2035 für Autos schaffe „Vorhersehbarkeit für Investoren und Hersteller“, ein „technologieneutraler Ansatz, bei dem E-Fuels eine Rolle spielen können“ sei aber über eine gezielte Änderung der Verordnung denkbar. Der Umweltverband T&E sieht Rückschritte zu ineffizienten E-Fuels kritisch.
Im Kapitel „Erhalt unserer Lebensqualität: Ernährungssicherheit, Wasser und Natur“ kündigt von der Leyen an, in den ersten 100 Tagen eine Vision für Landwirtschaft und Ernährung vorzulegen, die für langfristige Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit sowie Entbürokratisierung und Entlastung der Landwirtschaftsbetriebe sorgen soll. Auch die Anpassung des Agrarsektors an den Klimawandel sowie eine Strategie für Wasserresilienz sind vorgesehen. Der Naturschutz selbst kommt etwas kurz und bleibt unkonkret („Wir müssen auch den Schutz unserer natürlichen Welt fortsetzen“), die EU soll aber ihre internationalen Verpflichtungen einhalten. Von der Leyen will außerdem die Gleichheit innerhalb der Union stärken, die Rechte von Frauen voranbringen und eine erste EU-Anti-Armutsstrategie vorlegen.
Reaktionen aus Umweltverbänden zwischen Hoffnung und Skepsis
„Ursula von der Leyen hat den Green Deal nicht über Bord geworfen, aber sie hat für ihre zweite Amtszeit eine Agenda vorgelegt, der es an konkreten Maßnahmen und großen neuen Initiativen mangelt“, kommentierte der Direktor des Europabüros von Greenpeace Jorgo Riss die Wiederwahl von der Leyens. Ihre Wirtschaftspläne ignorierten „die zunehmend brüchigen ökologischen Grundlagen, von denen alle Arbeitsplätze und wirtschaftlichen Aktivitäten abhängen“. Ihre Agenda trage „die Handschrift der Interessen des Großkapitals“ und werde „zu mehr neokolonialem Wettbewerb um Ressourcen, Verschmutzung und Ausbeutung von Menschen und Ökosystemen führen“.
Der Umweltdachverband Deutscher Naturschutzring (DNR) sieht die Kommissionspräsidentin in der zweiten Amtszeit vor „großen Herausforderungen“. Damit Europa demokratisch und zukunftsfähig bleibe, müsse Ursula von der Leyen sich weiterhin klar zu den demokratischen Werten der EU bekennen und „die Brandmauer gegen rechts ausdrücklich und ohne Ausnahmen aufrechterhalten“. Dazu gehöre, „jeglichen Initiativen zur Aufweichung oder gar Rückabwicklung des Green Deals klar entgegenzutreten“, so der DNR. Sie habe mehr Gelder für einen gerechten Übergang zur Klimaneutralität versprochen, gleichzeitig aber dringend notwendige Zusagen zur Finanzierung der Natur-Wiederherstellungsverordnung unerwähnt gelassen. In Sachen Clean Industrie hat der Dachverband gemeinsam mit anderen Verbänden ein Forderungspapier zur europäischen Industriepolitik vorgelegt.
Der BUND begrüßte, dass Ursula von der Leyen sich klar zur Fortsetzung des Green Deals bekannt hat. Die vorgeschlagene Verringerung der Treibhausgas-Emissionen bis 2040 um 90 Prozent sei ein Schritt in die richtige Richtung. „Ihre Pläne lassen jedoch die Klarheit vermissen, wie Klima- und Artenkrise gelöst werden können. Sie gehen zum Teil in die entgegengesetzte Richtung. Die Aufweichung des Verbrenner-Aus und die Förderung von CCS sind ein klima- und wirtschaftspolitischer Holzweg“, so der BUND. Insgesamt brauche die EU weniger Energie- und Ressourcenverbrauch, einen kompletten Ausstieg aus fossilen Energien und mehr öffentliche Investitionen in den Klima-, Natur- und Umweltschutz, um den Umbau der Wirtschaft und den sozialen Ausgleich etwa im Bereich Wohnen zu finanzieren.
Germanwatch forderte die Weiterentwicklung des Green Deal und einen besonderen Schwerpunkt auf europäischer Klimasozialpolitik und der internationalen Zusammenarbeit. Es müssten alle Menschen und Regionen in der EU mitgenommen werden.
Der NABU beglückwünschte von der Leyen zur Wiederwahl, formulierte aber auch „klare Erwartungen an ihre zweite Amtszeit“. NABU-Präsident Jörg-Andreas Krüger sagte, es gebe „kein lebenswertes Europa ohne gesundes Klima und intakte Ökosysteme“, weshalb die EU-Kommissionspräsidentin den European Green Deal konsequent weiterführen müsse.
Die nächsten Schritte für die kommende EU-Kommission
Die gewählte Kommissionspräsidentin wird nun offizielle Schreiben an die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten versenden. Diese werden darin aufgefordert, ihre Kandidatinnen beziehungsweise Kandidaten für die Posten in der der EU-Kommission vorzuschlagen. Das EU-Parlament wird dann ab Herbst Anhörungen der Kandidatinnen und Kandidaten in den zuständigen Ausschüssen organisieren. Der WWF fordert schon jetzt konkrete Nachschärfungen der politischen Leitlinien bei den Anhörungen: „Es ist offensichtlich, dass eine Mehrheit der Mitglieder des Europäischen Parlaments den grünen und gerechten Übergang unterstützt, und dies hätte im Programm der Präsidentin stärker zum Ausdruck kommen können. Das Parlament muss nun die Anhörungen der Kommissare nutzen, um die oft vagen Verpflichtungen von Präsidentin von der Leyen zu stärken und zu präzisieren“. Das gesamte Kollegium der Kommissar*innen muss per Wahl vom Parlament bestätigt werden. [jg]
EU-Parlament: Europäisches Parlament wählt Ursula von der Leyen erneut zur Kommissionspräsidentin
EU-Kommission: EUROPE´S CHOICE - Political Guidelines 2024-2029 und [Nachtrag] deutsche Fassung: Europa hat die Wahl - Politische Leitlinien 2024-2029
Greenpeace EU: Von der Leyen second term: big promises, little coherence
DNR: Green Deal fortführen und Brandmauer aufrechterhalten
BUND: Von der Leyens Wiederwahl: Bauch- statt Mondlandung?
Germanwatch: Green Deal muss jetzt weiterentwickelt werden
NABU: Erneutes Bekenntnis zum Green Deal weckt Hoffnungen