Lückenhaftes Arbeitsprogramm 2024 bringt Umweltverbände auf die Palme
Die EU-Kommission hat ihr Arbeitsprogramm für das Wahljahr 2024 vorgestellt und ausstehende Initiativen angekündigt. Außerdem hat sie vorrangig zu behandelnde Rechtsakte aufgelistet, die bereits vorliegen. REACH fehlt. Tierschutz fehlt. Nachhaltige Lebensmittelsysteme fehlen.
„Heute liefern, das Morgen vorbereiten“ – so hat die EU-Kommission ihr Arbeitsprogramm 2024 überschrieben, das neben dem Programm selbst auch noch einen 46-seitigen Anhang enthält. Und sie verspricht, dass „diese Kommission […] bis zum letzten Tag ihrer Amtszeit daran arbeiten [wird], unsere gemeinsamen Herausforderungen zu bewältigen“. Die Behörde wolle Rat und Parlament darin unterstützen, sich über die noch anhängigen Schlüsselvorschläge zu einigen. Denn bis zur Europawahl im Juni nächsten Jahres dauert es in der Tat nicht mehr lang.
Um den europäischen Green Deal komplett zu machen, fehlen laut Anhang I noch:
- Das europäische Paket für die Windkraft (nicht legislativ, 4. Quartal 2023);
- das Klimaziel für 2040 (nicht legislativ, 1. Quartal 2024);
- die Initiative zur Wasserresilienz (nicht legislativ, 1. Quartal 2024).
Außerdem will die EU-Kommission im 1. Quartal 2024 noch ein EU-Weltraumgesetz (legislativ, einschließlich Folgenabschätzung) sowie eine Strategie für die wirtschaftliche Nutzung von Weltraumdaten (nicht legislativ) vorlegen. Im gleichen Zeitraum soll eine EU-Initiative in den Bereichen Biotech und Bioproduktion (nicht legislativ) sowie ein Rechtsakt über „Fortgeschrittene Werkstoffe für eine industrielle Führungsrolle“ (nicht legislativ) vorgelegt werden.
Struktur des Programms
Der Anhang des Programms gliedert sich in vier Teile. Neben den oben bereits erwähnten neuen politischen und gesetzgeberischen Initiativen enthält Anhang II 26 neue „wichtige Vorschläge und Initiativen zur Rationalisierung der Berichtspflichten und Bewertungen und Eignungsprüfungen“ – sprich: Bürokratieabbau und Erleichterungen für Unternehmen. Anhang III listet die von der EU-Kommission als „vorrangig“ bezeichneten anhängigen Vorschläge, „mit denen sich die beiden gesetzgebenden Organe möglichst rasch befassen sollten“, auf. Anhang IV enthält bereits anhängige Vorschläge, die laut EU-Kommission zurückgezogen werden sollen.
Ein Beispiel für Vereinfachungsvorschläge im Anhang II ist die in der Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen vorgesehene Verlängerung der Meldefristen. Anhang II enthält aber unter anderem auch eine „Sektion C“, in der es um Bewertungen und sogenannte „Fitness-Checks“ von Gesetzesakten geht. Interessant dürften beispielsweise der 2024 noch zu erwartende Fitness-Check der Anwendung des Verursacherprinzips auf die Umwelt und die Bewertungen der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie, der Badegewässer-Richtlinie, der Nitrat-Richtlinie und der Richtlinie über Alt-Elektronikgeräte sein.
Zu Anhang III mit den Schlüsselvorschlägen aus Sicht der Kommission - dazu zählen allein 46 Dossiers innerhalb des europäischen Green Deals - gehören unter anderem die EU-Naturwiederherstellungsverordnung, die Pestizidverordnung (SUR), neue Gentechnikverfahren, das Bodenüberwachungsgesetz, Chemikalienkennzeichnung (CLP), Verpackungen, Abfall, Luftqualität, Grund- und Abwasser oder auch Öko-Design.
Sechs Vorschläge will die EU-Kommission laut Anhang IV zurückziehen, weil sie überflüssig geworden sind und in anderen Rechtsakten bereits enthalten sind, beispielsweise ist Euratom nun im mehrjährigen Finanzrahmen integriert.
Der Teufel steckt in zehn Prozent Nichterreichtem - ein "European Toxic Deal"?
Während die EU-Kommission verkündet, dass sie 90 Prozent der geplanten Vorhaben umgesetzt hat, reagiert die Zivilgesellschaft gereizt auf die nicht mehr enthaltenen Gesetzesvorschläge, die aber am Anfang der Legislaturperiode beziehungsweise im Rahmen vos Green Deals angekündigt worden waren. Das Europäische Umweltbüro (EEB) stellt einen schwerwiegenden Verstoß gegen die von der Kommission eingegangenen formellen Verpflichtungen fest: eine „völlige Missachtung der REACH-Reform, der Überarbeitung des Tierschutzes und des Gesetzes über nachhaltige Lebensmittelsysteme“. Dies gefährde auch das „Erbe“ der Kommission. Als Säulen des europäischen Green Deals seien alle diese Dossiers von entscheidender Bedeutung für die Bemühungen Europas, die drei planetarischen Krisen - Klima, Umweltverschmutzung und Verlust der biologischen Vielfalt - zu bewältigen und gleichzeitig eine gesunde Umwelt für die EU-Bürger*innen zu gewährleisten.
Die REACH-Reform und die Überarbeitung des Tierschutzes seien bereits „ofenfertig“ gewesen und auch das Gesetz über nachhaltige Lebensmittelsysteme habe sich bereits in Vorbereitung befunden. „Sie zu opfern, ist eine ungeheuerliche politische Entscheidung, die die Forderungen der Wissenschaft und der Bürger zugunsten kurzfristiger Wahlerwägungen missachtet“, so das EEB. Komissionspräsidentin von der Leyen könne nicht den Anspruch erheben, den Green Deal zu verwirklichen, wenn sie bei Chemikalien, Tierschutz und Lebensmittelsystemen die Augen verschließe. Die Gesundheit der Menschen und die biologische Vielfalt Europas seien keine zweitrangigen Prioritäten und die Kosten für weitere Untätigkeit erschreckend hoch. Scheinbar seien die Profite der chemischen Industrie wichtiger als die Gesundheit der europäischen Bevölkerung. „Der European Green Deal wird als European Toxic Deal in die Geschichte eingehen“, kritisierte die Organisation.
Auch die Tierschutzorganisation Vier Pfoten hatte das Fehlen von drei der vier versprochenen Tierschutzgesetze vehement kritisiert; ebenso das Landwirtschaftsbündnis ARC2020 den ausbleibenden Gesetzesvorschlag über nachhaltige Lebensmittelsysteme (Sustainable Food Systems Law - SFS). Auch SlowFood kritisierte, dass die Umgestaltung der Ernährungssysteme nicht mehr die Priorität der EU-Kommission sei, obwohl das SFS doch ein wichtiger Bestandteil der Ziele der europäischen Farm-to-Fork-Strategie sei. [jg]
Arbeitsprogramm für 2024: Bürokratieabbau und Wettbewerbsfähigkeit im Fokus
Commission work programme 2024 mit allen Anhängen und Factsheet_CWP_2024_explained_DE.pdf
EEB-Reaktion: Déjà vu: Commission’s Work Programme bows pressure yet again